Was ist „kaputt“ bei der vestibulären Migräne?
Anja Lamprecht
„Software- oder Hardware-Störung“? von Dagny Holle, Steffen Nägel und Sebastian Wurthmann, Essen Die vestibuläre Migräne (VM) ist eine Sonderform der Migräne, wobei der Schwindel sowohl zusätzlich zu den Migränekopfschmerzen als auch vor oder nach einer „Migräneattacke“ auftreten kann. Eine klare Trennung der an der Entstehung der VM beteiligten sowohl peripheren als auch zentralen Mechanismen kann nicht getroffen werden. In der aktuellen Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD III) liegen erstmals Diagnosekriterien für die VM vor. Sie sollte differenzialdiagnostisch korrekt abgeklärt werden, weil es eine gut mit Akut- und prophylaktischer Medikation behandelbare Erkrankung ist. Die Therapie orientiert sich dabei an den Behandlungsempfehlungen für eine Kopfschmerzmigräne. Der Schwindel tritt häufig im Rahmen der VM, aber auch isoliert ohne weitere Kopfschmerzen auf. Zumeist beschreiben die Betroffenen eine Begleitsymptomatik in Form einer Phono- und Photophobie und/oder den vegetativen Symptomen Übelkeit und Erbrechen. Auch assoziierte Migräne-Aura Symptome sind häufig. Am häufigsten werden visuelle Auren berichtet. Einen typischen vestibulären Schwindel gibt es dabei nicht. Der Schwindel kann spontan oder bei Lagerung auftreten. Viele Patienten beschreiben lediglich eine Intoleranz bzgl. Kopfbewegungen oder einen durch bewegte Objekte induzierten visuellen Schwindel. Als Auslöser geschildert werden hier z. B. Fahren durch eine Allee oder die Effekte von 3D-Filmen. Die Dauer des Schwindels liegt zwischen fünf Minuten und 72 Stunden, aber auch längere Schwindelepisoden sind durchaus beschrieben. Der Schwindel kann von den Patienten als Dreh- oder Schwankschwindel oder auch als ein reines Benommenheitsgefühl „als sei man betrunken“ erlebt werden. Erstmals liegen in der aktuellen Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD III) Diagnosekriterien für die VM vor [1, 2] (Tabelle 1), welche in Zusammenarbeit mit der Bárány-Gesellschaft für Schwindelerkrankungen erarbeitet wurden. Pathophysiologie der vestibulären Migräne Die der vestibulären Migräne zugrunde liegende Pathophysiologie ist bislang ungeklärt. Insbesondere die Frage, ob es sich vorwiegend um zentrale oder periphere Veränderungen bei diesem Krankheitsbild handelt, ist offen [3]. Die Konnektivität zwischen trigeminalem und vestibulärem System ist seit langem bekannt. Anatomisch erhalten die vestibulären Kerngebiete noradrenerge Projektionen vom Locus coeruleus [4] und serotonerge Projektionen aus den dorsalen Raphe-Kernen [5]. Experimentell konnten diese relevanten anatomischen Verbindungen bei Patienten mit Migräne belegt werden. So ließ sich mit einer durch schmerzhafte dermale supraorbitale Stimulation bei Patienten mit Migräne ein Nystagmus auslösen; dies ist bei Kontrollpersonen nicht der Fall [6]. Zudem konnte gezeigt werden, dass die kalorische Stimulation im Rahmen einer Videonystagmographie (VNG) bei Migränepatienten innerhalb der ersten 24 Stunden der Untersuchung vermehrt Migränekopfschmerzen auslöst [7]. In der klinischen Routine fällt häufig bereits während der VNG-Untersuchung auf, dass Patienten mit einer vestibulären Migräne oftmals besonders ausgeprägt auf die kalorische Stimulation reagieren. Dieses gilt sowohl bzgl. der vegetativen Symptome wie Übelkeit und Erbrechen, als auch der nachweisbaren Nystagmen (Abbildung 1), wobei anzumerken ist, dass aktuell keine klaren Grenzwerte für eine „Überreaktion“ bei kalorischer Reizung vorliegen. Während einer vestibulären Migräneattacke lassen sich sowohl zentral und peripher generierte Nystagmen und Störungen der Okulomotorik nachweisen [8]. So findet sich bei einigen Patienten ein Spontannystagmus, andere haben einen Lage- oder Lagerungsnystagmus, Seitenwechsel der Nystagmen sind möglich. Bei bis zu 25 % der Patienten findet sich ein einseitiges peripher vestibuläres Defizit und bei 50 % der Patienten eine vestibulo-okkuläre Asymmetrie [9]. Interiktal zeigt sich bei einigen Patienten eine sakkadierte Blickfolge als Hinweis auf eine zentrale Komponente in der Pathophysiologie der VM [10]. Longitudinale Untersuchungen, inwiefern sich dieses „bunte Bild“ im Rahmen des Migränezyklus alterniert, sind ausstehend. Bildgebende Untersuchungen konnten zeigen, dass sich während einer vestibulären Migräneattacke der Stoffwechsel in Bereichen des Gehirns, die an der Verarbeitung von Schmerzen und vestibulären Reizen beteiligt sind, alteriert ist. Beteiligte sind u.a. das Cerebellum, der Thalamus sowie frontale und frontoparietale Hirnregionen [11]. Nach einer Kaltwasserspülung im Ohr zeigte sich zudem bei Patienten mit vestibulärer Migräne eine gesteigerte thalamische Aktivierung, die mit der vorliegenden Migränefrequenz korrelierte [12]. Neben funktionellen Veränderungen konnten mittels voxelbasierter Morphometrie auch strukturelle cerebrale Veränderungen bei Patienten mit VM nachgewiesen werden. Hier imponierte eine Reduktion der grauen Substanz in verschiedenen schmerzverarbeitenden multisensorischen vestibulären sowie vestibulär-assoziierten Hirnarealen [13]. Fazit Die vorliegenden wissenschaftlichen Daten zeigen, dass wahrscheinlich periphere und zentrale Mechanismen an der Entstehung der vestibulären Migräne beteiligt sind und dass eine klare Trennung zwischen einer Software- und einer Hardware-Störung nicht getroffen werden kann. In der klinischen Praxis wird es wichtig sein, dieses wahrscheinlich sehr häufig vorliegende Krankheitsbild zu identifizieren, gerade dann, wenn eben keine begleitenden Kopfschmerzen vorliegen, die eine Diagnosestellung erheblich vereinfachen. Bei erheblichem Leidensdruck und hieraus resultierender Verunsicherung wird allzu häufig die Differenzialdiagnose des somatoformen Schwindels favorisiert. Die korrekte Einordnung ist aber auch vor dem Hintergrund wichtig, dass es sich bei der VM um eine gut mit Akutmedikation und prophylaktischer Medikation behandelbare Erkrankung handelt. Die Behandlung orientiert sich dabei, auch wenn gar keine Migränekopfschmerzen vorliegen, an den Behandlungsempfehlungen für eine Kopfschmerzmigräne. Literatur: Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia. Jan; 38(1): 1−211 (2018). Lempert T, Olesen J, Furman J, Waterston J, Seemungal B, Carey J, Bisdorff A, Versino M, Evers S, Newman-Toker D. Vestibular migraine: diagnostic criteria. J Vest Res 22: 167–172 (2012) Furman JM, Balaban CD. Vestibular migraine. Ann N Y Acad Sci 1343: 90–96 (2015). Schuerger RJ, Balaban CD. Organisation of the coeruleo-vestibular pathways in rats, rabbits, and monkeys. Brain Res Rev 30: 189–217 (1999). Halberstadt AL, Balaban CD. Organisation of projections from the raphenuclei to the vestibular nuclei in rats. Neuroscience 120: 573–594 (2003). Marano E, Marcelli V, Stasio ED et al. Trigeminal Stimulation Elicits a Peripheral Vestibular Imbalance in Migraine Patients. Headache J Head Face Pain 45: 325–331 (2005). Murdin L, Davies RA, Bronstein AM. Vertigo as a migraine trigger. Neurology 73: 638–642 (2009). von Brevern M, Zeise D, Neuhauser H et al. Acute migrainous vertigo: clinical and oculographic findings. Brain J Neurol 128: 365–374 (2005). Furman JM, Marcus DA. 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Dagny Holle Dagny.Holle-Lee@uk-essen.de aus connexi 1-2019 SCHMERZ- und PALLIATIVMEDIZIN Deutscher Schmerzkongress 2018 in Mannheim Kongressberichte Titelbild Copyright: mauritius images / Science Picture Co., Shutterstock® Peter Hansen Gestaltung: Jens Vogelsang