Speed update: Neuropathischer Schmerz

SPEED UPDATE - Neuropathischer Schmerz von Janne Gierthmühlen, Kiel     Neuropathische Schmerzen sind von noziplastischen und nozizeptiven Schmerzen zu unterscheiden. Die Differenzierung ist wichtig, da neuropathische Schmerzen sich in der Therapie unterscheiden. Verschiedene Patienten-Subgruppen mit unterschiedlichen sensorischen Profilen sprechen auf bestimmte Therapien entsprechend unterschiedlich an. Die Idee der mechanismenbasierten Therapie gilt heutzutage international als Innovation und ist in der neurologischen Schmerzforschung anerkannt. Damit könnte die Versorgung unserer Schmerzpatienten in der Zukunft deutlich verbessert werden.   Bis vor kurzem wurden zwei verschiedene Arten von Schmerzen unterschieden: Zum einen die Nozizeptorschmerzen, bei denen chronische Noxen (chemisch, mechanisch, thermisch) zu einer Erregung nozizeptiver Neurone führen (z. B. Rheumaschmerz, Entzündungsschmerz, Ischämieschmerz etc.), wobei die peripheren und zentralen Nervenstrukturen intakt sind. Auf der anderen Seite wurden neuropathische Schmerzen zusammengefasst, die als Folge einer Schädigung oder Funktionsstörung des somatosensorischen Systems entstehen. Durch die Schädigung oder Funktionsstörung des somatosensorischen Systems kommt es zu meist irreversiblen peripheren und zentralen Veränderungen des nozizeptiven Systems (biochemische, morphologische und physiologische Veränderungen), die zu einer Fazilitierung der Fortleitung und Empfindung nozizeptiver Reize führt. Da es in vielen Studien Hinweise auf eine veränderte Nozizeption auch bei nozizeptiven Schmerzen gab, hat die IASP den Terminus „noziplastischer Schmerz“ als eine neue Kategorie von Schmerzen eingeführt. Hierunter werden Schmerzen verstanden, die durch eine veränderte Nozizeption bedingt sind, ohne dass es Hinweise für eine Erkrankung oder Schädigung des somatosensorischen Systems gibt. Neuropathische Schmerzen werden somit klar von noziplastischen und nozizeptiven Schmerzen unterschieden. Die Unterscheidung ist wichtig, da neuropathische Schmerzen sich in der Therapie unterscheiden.   Neuropathische Schmerzen − drei Cluster   Neuropathische Schmerzen weisen oft eine brennende, schneidende oder elektrisierende Charakteristik auf. Typisch sind darüber hinaus Sensibilitätsstörungen (Hypästhesie, Hyperästhesie, Dysästhesie, Hypalgesie, Hyperalgesie, Allodynie), die sich in verschiedenen Qualitäten (thermisch, mechanisch) äußern können. Die verschiedenen Symptome können individuell auch bei gleicher Ätiologie unterschiedlich vorhanden und ausgeprägt sein, sie sind Spiegel der zugrundeliegenden Pathomechanismen, die bei dem jeweiligen Pa­tienten eine Rolle spielen [1, 2, 3].   In einer großen europaweiten Studie hat sich gezeigt, dass Patienten mit neuropathischen Schmerzen durch drei große Cluster (thermische Hyperalgesie, sensorischer Verlust, mechanische Hyperalgesie) charakterisiert werden können [4,5]. Die Diagnostik dieser individuellen pathophysiologischen Mechanismen durch Untersuchung der individuellen somatosensorischen Perzeption könnte zukünftig eine individualisierte personalisierte Therapie eben dieser Mechanismen ermöglichen.   Die unterschiedlichen Pathomechanismen, die bei den verschiedenen Patienten eine Rolle spielen, könnten somit auch erklären, warum viele klinische Studien mit Medikamenten, die vielversprechend in Voruntersuchungen waren, negative Ergebnisse gezeigt haben, da der Einschluss in die Studien nicht nach zugrundeliegenden Mechanismen erfolgte. Die erste Studie, die nach somatosensorischem Phänotyp (sensorischer Funktionsgewinn versus -verlust) unterteilte, konnte zeigen, dass Oxcarbazepin im Vergleich zu Placebo nur bei Pa­tienten mit sensorischem Funktionsgewinn wirksam war [6]. Weitere Studien konnten bestätigen, dass sich Patienten-Subgruppen mit verschiedenen sensorischen Profilen in der Ansprechbarkeit auf bestimmte Therapien unterscheiden [7, 8]. Da die Schmerzreduktion bei vielen Patienten bislang nur unbefriedigend ist, ist die Idee der mechanismen-basierten Therapie heutzutage international als Innovation der neurologischen Schmerzforschung anerkannt und könnte die Versorgung unserer Schmerzpatienten in der Zukunft deutlich ver­bessern.   Pharmakotherapie   Die pharmakologische Therapie neuropathischer Schmerzen greift an unterschiedlichen Punkten der verschiedenen Pathomechanismen neuropathischer Schmerzen an. Zur Anwendung kommen als erste Wahl kalziumkanalmodulierende Antikonvulsiva (Gabapentin/Pregabalin) sowie tri- und tetrazyklische Antidepressiva und der selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Duloxetin [9]. Bei fokalen Nervenläsionen können Lidocain- und Capsaicin-8 %-Pflaster mit geringeren Nebenwirkungen als systemische Pharmakotherapeutika eingesetzt werden (Tabelle 1).       Die Auswahl des Medikamentes richtet sich nach den Vorerkrankungen und Begleitmedikamenten der Patienten. Opioide sind zwar wirksam, es sollten hier jedoch die Nebenwirkungen und das Abhängigkeitspotenzial beachtet werden. Niederpotente Opioide können als Medikament der zweiten Wahl empfohlen werden. Hochpotente Opioide sollten bei chronischen neuropathischen Schmerzen (Ausnahme: Palliativsituation) erst als Medikamente der dritten Wahl und nur im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie angewendet werden. Kombinationstherapien bereits zu Beginn der Therapie können sinnvoll sein, da Einzeldosen reduziert werden können und teilweise synergistische Effekte auftreten. Carbamazepin und Oxcarbazepin können auf Grund der geringen Evidenz und der häufigen Nebenwirkungen nicht generell empfohlen werden, können jedoch im Einzelfall erwogen werden (Ausnahme: Trigeminusneuralgie). Botulinumtoxin kann zur Therapie fokaler neuropathischer Schmerzen als Medikament der dritten Wahl ebenfalls erwogen werden [10]. Cannabinoide können zur Therapie neuropathischer Schmerzen jedweder Ursache derzeit aufgrund ihrer Nebenwirkungsrate und des geringen Effektes nicht empfohlen werden [11, 12]. Sie können in Einzelfällen bei Versagen anderer Schmerztherapien als Off-label-Therapie im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts erwogen werden.          Literatur:   Gierthmuhlen J and Baron R. Neuropathic Pain. Semin Neurol 36(5): 462−468 (2016). Gierthmuhlen J, Binder A and Baron R. Mechanism-based treatment in complex regional pain syndromes. Nat Rev Neurol 10(9): 518−528 (2014). Gierthmühlen J, B.R. Vom Symptom zur Therapie, in Praktische Schmerzmedizin, K.W. Baron R, Strumpf M, Willweber-Strumpf A, Editor. 2013, Springer Medizin Verlag. 67−78. Baron R, et al. Peripheral neuropathic pain: a mechanism-related organizing principle based on sensory profiles. Pain 158(2): 261−272 (2017). Vollert J, et al. Pathophysiological mechanisms of neuropathic pain: comparison of sensory phenotypes in patients and human surrogate pain models. Pain 159(6): 1090−1102 (2018). Demant DT, et al. The effect of oxcarbazepine in peripheral neuropathic pain depends on pain phenotype: a randomised, double-blind, placebo-controlled phenotype-stratified study. Pain 155(11): 2263−2273 (2014). Yarnitsky D, et al. Conditioned pain modulation predicts duloxetine efficacy in painful diabetic neuropathy. Pain 153(6): 1193−1198 (2012). Demant DT, et al. Pain relief with lidocaine 5% patch in localized peripheral neuropathic pain in relation to pain phenotype: a randomised, double-blind, and placebo-controlled, phenotype panel study. Pain 156(11): 2234−2244 (2015). Finnerup NB, et al. Pharmacotherapy for neuropathic pain in adults: a systematic review and meta-analysis. Lancet Neurol (2015). Safarpour Y, Jabbari B. Botulinum toxin treatment of pain syndromes − an evidence based review. Toxicon 147: 120−128 (2018). Petzke F, Enax-Krumova EK, Hauser W. Efficacy, tolerability and safety of cannabinoids for chronic neuropathic pain: A systematic review of randomized controlled studies. Schmerz 30(1): 62−88 (2016). Hauser W, et al. European Pain Federation (EFIC) position paper on appropriate use of cannabis-based medicines and medical cannabis for chronic pain management. Eur J Pain, 22(9): 1547−1564 (2018).   Bild Copyright: Shutterstock® Tanhauzer     Autor:           PD Dr. med. Janne Gierthmühlen Janne.Gierthmuehlen@uksh.de                 aus connexi  1-2019 SCHMERZ- und PALLIATIVMEDIZIN Deutscher Schmerzkongress 2018 in Mannheim Kongressberichte       Titelbild Copyright: mauritius images / Science Picture Co., Shutterstock® Peter Hansen Gestaltung: Jens Vogelsang    
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