Schwindel in der Notaufnahme

Häufige Diagnosen und Fehldiagnosen von Georg Royl, Lübeck     Der Schwindel ist das dritthäufigste neurologische Leitsymptom in der Notaufnahme, nach Kopfschmerzen und Lähmungen [1, 2]. Die Entscheidung benigne peripher vestibuläre vs. gravierende zentral-vestibuläre Ursache wird leider häufig unter Zeitdruck getroffen. Besonders fatal kann dabei das Übersehen eines möglicherweise gefährlichen zentralen Schwindels, z. B. als Hinweis auf einen Hirnstamminfarkt, sein.   In einer großen Schwindelambulanz betrug der Anteil zentral-vestibulärer Syndrome 12 % [1]. In einer retrospektiven Studie der Charité Berlin wurde anhand der Protokolle von allen 475 konsekutiven Patienten eines Jahres, die sich mit dem Leitsymp­tom Schwindel in der Notaufnahme vorgestellt hatten, die dort gestellte Diagnose identifiziert. Die häufigsten Diagnosen waren der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) (22 %), gefolgt von ischämischem Schlaganfall (20 %), Präsynkope (15 %), psychogenem Schwindel (13 %) und Neuropathia vestibularis (11 %) (Abbildung 1). Der Anteil an gravierenden Diagnosen in der Notaufnahme war mit 27 % gegenüber dem Anteil aus der Schwindelambulanz mehr als verdoppelt [2].   Sechs Prozent falsch-benigne Diagnosen   Bei 124 Patienten mit verfügbarer Diagnosekon­trolle (stationäre Aufnahme oder erneute kurzfristige Vorstellung in der Notaufnahme) wurde die beim zweiten Mal gestellte Diagnose mit der initialen Notaufnahmediagnose verglichen. Diese wurde in 44 % der Fälle korrigiert. In 11 % wurde eine benigne in eine andere benigne Diagnose geändert (z. B. Präsynkope statt BPLS, vestibuläre Migräne statt Neuropathia vestibularis). Bei 4 % erfolgte die Korrektur einer gravierenden Diagnose hin zu einer anderen gravierenden Diagnose, z. B. von ischämischem Hirninfarkt zu einer entzündlichen ZNS-Erkrankung. Solche Korrekturen (benigne zu benigne, gravierend zu gravierend) sind in der Akutsituation nicht schwerwiegend, zeigen sie doch eine richtige Zuordnung benigne vs. gravierende Diagnose an, die ja das vordringliche Ziel der Notaufnahmeeinschätzung ist. Dies trifft aber nicht zu für die Fälle, bei denen eine initial angenommene gravierende Diagnose zu einer benignen geändert wurde (falsch-gravierend) oder umgekehrt (falsch-benigne).   Zu einer falsch-gravierenden Diagnose kam es in der Studie bei 23 % der Fälle. Bei 22 von 70 Pa­tienten mit der Notauf­nahme­dia­gnose Hirnstamminfarkt wurde z. B. im Verlauf eine benigne Diagnose wahrscheinlicher, am häufigsten die Neuropathia vestibularis (sieben Fälle). Initial falsch-gravierend gestellte Diagnosen können eine Sicherheitsvorkehrung widerspiegeln („lieber vom Schlimmeren ausgehen“), die auch den Gedanken impliziert, die Diagnose im weiteren (meist stationären) Verlauf noch einmal zu überprüfen.   In der Studie kam es aber leider auch zu 6 % falsch-benignen Diagnosen, also potenziell lebensbedrohenden Fehldiagnosen. Die größte Gruppe stellten dabei die Patienten, bei denen die Notaufnahmediagnose Neuropathia vestibularis zur Diagnose Schlaganfall korrigiert wurde [2].     Schlaganfallrisiko bei Schwindelpatienten höher   Dass solche Fälle nicht nur immer wieder passieren, sondern auch eine klinische Relevanz haben, zeigt eine Studie, die anhand von ICD-10 Diagnosen 42.000 Patienten selektierte, die aus einer Notaufnahme in Ontario mit der Diagnose „periphere vestibuläre Störung“ entlassen worden waren. Diese wurden mit einer Kontrollpopulation mit der Entlassungsdiagnose „Nierenkolik“ gematcht. Endpunkt war ein folgender Krankenhaus-Aufenthalt wegen Schlaganfalls. Das absolute Risiko war wie erwartet in beiden Gruppen niedrig (<0,5 %), allerdings war das relative Risiko für einen Schlaganfall bei den Schwindelpatienten signifikant erhöht, in der ersten Woche nach dem Schwindel sogar um 50 %. Auch hier kam es zu demnach zu falsch-benignen Zuordnungen, d. h. nicht diagnostizierten Schlaganfällen bei Schwindelpatienten. Dies ist auch deshalb wenig überraschend, weil Kleinhirninfarkte sich mit Schwindel als einzigem Symptom manifestieren können, v. a. bei PICA-Infarkten [3].     Differenzialdiagnostik   Bei in der Notaufnahme bereits abgeklungenen Symptomen lässt sich die Diagnose Schlaganfall daher ohne cMRT nicht gut ausschließen, vor allem wenn anamnestisch keine eindeutige Zuordnung zu einer peripheren Genese möglich ist. Bei noch anhaltender Symptomatik hat sich die sogenannte HINTS-Trias aus Kopfimpulstest (HI), Nystagmus (N) und Untersuchung auf Skew Deviation (TS) als sehr hilfreich in der Differenzialdiagnose Hirn­stamm­infarkt vs. Neuropathia vestibularis herausgestellt [4]. In dieser Arbeit war die Wahrscheinlichkeit für eine zentrale Ursache des Schwindels bei 96 %, wenn eines der „gefährlichen HINTS-Zeichen“ zu finden war: ein normaler Kopfimpulstest, ein horizontaler Nystagmus mit Richtungswechsel oder eine vorhandene Skew Deviation. Demgegenüber sank die Wahrscheinlichkeit auf 0 %, wenn alle „benignen HINTS-Zeichen“ bestanden: ein pathologischer Kopfimpulstest, ein horizontaler Nystagmus ohne Richtungswechsel und eine fehlende Skew Deviation (Abbildung 2).   Einschränkend muss gesagt werden, dass die HINTS-Zeichen bei Patienten mit kardioavaskulärem Risikoprofil erhoben wurden. Weiterhin sollte auch die z. T. eingeschränkte Sensitivität des klinischen Kopfimpulstestes beachtet und im Zweifel auch ein quantitativer Kopfimpulstest ergänzt werden [5].     Fazit   Die häufigsten Diagnosen bei Schwindel in der Notaufnahme sind BPLS, Schlaganfall, Präsynkope, psychogener Schwindel und Neuropathia vestibularis. Besonders tückisch ist die ähnliche Präsentation von Neuropathia vestibularis und Schlaganfall. Hier sollten die HINTS-Zeichen genau erhoben werden, am besten ergänzt durch einen quantitativen Kopfimpulstest und – insbesondere bei kardiovaskulärem Risikoprofil – durch ein cMRT.           Referenzen Strupp M, Dieterich M, Brandt T. Dtsch Arztebl Int 2013:110:505−515;quiz515−516. Royl G, Ploner CJ, Leithner C. Eur Neurol 2011;66: 256−263. Lee H, Sohn SI, Cho YW, et al. Neurology 2006;67:1178−1183. Kattah JC, Talkad AV, Wang DZ, et al. Stroke 2009;40: 3504−3510. Machner B, Sprenger A, Füllgraf H, et al. Nervenarzt 2013;84:975−983.     Bild Copyright: Stockphoto Creativeye99   Lesen Sie diesen und weitere spannende Beiträge in unserer Online-Ausgabe.       Autor:           Priv.-Doz. Dr. med. Georg Royl georg.royl@neuro.uni-luebeck.de                   aus connexi  3-2019 NEUROLOGIE, NEUROINTENSIVMEDIZIN Neurowoche 2018, ANIM 2019 Kongressberichte       Titelbild Copyright: Alexey Kashpersky, Ukraine; Fotolia® Johan Swanepoel. Gestaltung: Jens Vogelsang      
Neueste Artikel

 

Kontaktieren Sie uns

 

 

 

Folgen Sie uns