Neurologie: Vom Diagnosefach zur dynamischen therapeutischen Disziplin
Interview mit Prof. Dr. med. Dr. h.c. Stefan Schwab Neurointensivmedizin im Fokus Das Fachgebiet Neurologie wächst jährlich um etwa 6 % − so schnell wie keine andere klinische Disziplin in Deutschland. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach hochwertigen und unabhängigen Fortbildungsangeboten. Einer der Höhepunkte im Fortbildungsprogramm 2016 war der 89. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) im September in Mannheim. connexi hatte im Anschluss Gelegenheit zu einem Interview mit dem Kongresspräsidenten Prof. Dr. med. Dr. h.c. Stefan Schwab, Erlangen, in dem er einige Aspekte aus dem vielfältigen, zunehmend interdisziplinären Programm reflektiert. In welchen Bereichen werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Verfahren den klinischen Alltag in nächster Zukunft für Ärzte und Patienten spürbar verändern? Man kann sagen, dass dies in nahezu sämtlichen Bereichen zu erwarten ist. Derzeit verzeichnet die gesamte Neurologie in enormem Tempo klinisch relevante Erfolge. Zwei Beispiele sollen das exemplarisch zeigen: Erstens die vaskuläre Neurologie – einer der größten Spezialbereiche innerhalb der Neurologie. Wir haben auf dem DGN-Kongress in Mannheim 2016 viele wissenschaftliche Symposien, inklusive des Präsidentensymposiums, abgehalten, die sich intensiv mit neueren Verfahren – wie der mechanischen Thrombektomie – beschäftigt haben. Es konnte klar herausgearbeitet werden, dass die Triage von Patienten hin zu vaskulären Zentren, die dieses Therapieverfahren anbieten können, immensen Einfluss auf die künftige Organisationsstruktur peripherer Kliniken haben wird. Aber auch das Feld der Neuroimmunologie entwickelt sich derzeit besonders dynamisch. Viele neue Substanzen sind in den letzten Jahren marktreif geworden. Sowohl die neuen, oral verabreichbaren Präparate als auch die hochspezifischen und hocheffektiven monoklonalen Antiköper bieten vielfältige Therapieoptionen, deren Eskalationsschemata intensiv diskutiert wurden. Welche Themen des Kongresses würden Sie niedergelassenen Neurologen, die in diesem Jahr nicht in Mannheim waren, empfehlen, mit denen sie sich aktuell intensiver beschäftigen sollten, um keinem Patienten eine bereits verfügbare neue Therapie vorzuenthalten? Neben den genannten Bereichen sind auch in der Neuroonkologie, der Myologie, der Demenz- und Schmerzforschung etliche Therapiestudien im Gange bzw. bereits vorgestellt worden, so dass ich hier kein Gebiet innerhalb der Neurologie ausklammern möchte. Inwiefern und in welchen Bereichen gewinnt die invasive Neurologie an Bedeutung? Dem Thema „invasive Neurologie“ haben wir das Präsidentensymposium gewidmet, um klar zu signalisieren, dass sich in der Neurologie ein Trend fortsetzt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Neurologie von einem reinen Diagnosefach ohne wesentliche Behandlungsmöglichkeiten zu einer hochdynamischen Disziplin mit diversen Therapieoptionen entwickelt. Zukünftig werden invasive Behandlungen maßgeblich in die Therapiestrategien neurologischer Erkrankungen einfließen. Bei neurodegenerativen Bewegungserkrankungen, Stichwort Parkinson Syndrom, wird beispielsweise auf internationaler Ebene der Einsatz von fetalen Stammzellen erforscht. In der Neuroimmunologie steht die Zelldepletion bzw. Myeloablation im Vordergrund, also das spezifische Ausschalten von Immunzellen bzw. des Knochenmarks, welche die Autoimmunerkrankungen auslösen. Auch in der Epileptologie gibt es enorme Fortschritte mit invasiven Verfahren – wie der Implantation von Tiefenhirnelektroden zur verbesserten Diagnose und neue Therapieverfahren wie Vagusnervstimulatoren. Und natürlich stellen uns die invasiven Möglichkeiten, allen voran die Thrombektomie, wie bereits erwähnt in der Schlaganfallversorgung, vor Herausforderungen und gleichzeitig neue Möglichkeiten, schwer betroffene Patienten in der Akutphase optimal zu behandeln. Wo sehen Sie aktuell den größten Forschungsbedarf, das heißt auf welchen Gebieten ist man noch nicht so wie gewünscht vorangekommen und gibt es diesbezüglich über besonders aussichtsreiche Projekte zu berichten? Erfreulicherweise kann man konstatieren, dass in allen Bereichen der Neurologie momentan maßgebliche Fortschritte in der Diagnostik und Therapie erfolgen. Wichtig und herausfordernd ist es nun, das neu erworbene Wissen praktisch umzusetzen. Hier brauchen wir – natürlich ohne die Entwicklung und Testung weiterer neuer Therapien einzuschränken – neue Studien zur Versorgung, Umsetzung und Implementierung der Behandlungsoptionen in die klinische Routine. Was brennt in der Fachrichtung berufspolitisch zurzeit unter den Nägeln? Durch die Fortschritte in der Neurologie ergeben sich neue Versorgungsaufgaben und mit dem rasanten Wachstum der Neurologie von jährlich 6 % mehr Kolleginnen und Kollegen zum Glück auch die Kapazitäten, sich dieser Aufgaben anzunehmen. Beispiele sind die stärkere Einbindung der Neurologie in die geriatrische Versorgung oder in der Palliativmedizin, wo dringend mehr neurologische Expertise gebraucht wird. Für solche neuen Aufgaben ist die Interdisziplinarität genauso wichtig wie die passenden Vergütungsstrukturen oder die Anpassung der Weiterbildungsordnungen bzw. der neuen Musterweiterbildungsordnung, die sich derzeit in der Endphase ihrer Konsentierung befindet. Der DGN-Kongress 2016 ist Geschichte. Wie war die Resonanz? Wurden das Konzept, die Fortbildungsangebote, Formate wie DGN(forum und „Geistesblitze“ angenommen? Die Resonanz war durchweg positiv. Im Besonderen wurden mir und dem Kongresssekretär, Herrn Huttner, ein sehr gelungenes wissenschaftliches Programm attestiert. Viele Kollegen lobten die thematische Breite der wissenschaftlichen Symposien. Auch für die Strategie, innerhalb der Symposien hochkarätige wissenschaftliche Präsentationen mit ausgewogenen Übersichtsbeiträgen zu kombinieren, gab es sehr positive Rückmeldungen. Die Fortbildungsakademie hat synergistisch hierzu das ein oder andere Thema intensiviert behandelt, so dass wirklich jedermans Interesse bedient wurde. Das DGN(forum konnte zeigen, dass nichtwissenschaftliche Trendthemen wie Resillienzstrategien für Mitarbeiter in Kliniken oder der Megatrend „Online-Medizin“ zahlreiche Kolleginen und Kollegen beschäftigen. Die „Geistesblitze“, also der erste „Science Slam“ auf einem DGN-Kongress war ein unwahrscheinlicher Erfolg! Mehr als 700 Besucher strömten zu dieser Veranstaltung, so dass wir spontan einen weiteren großen Kongresssaal öffnen mussten, um – via Livestreaming – dort die interessierten Zuhörer an der Performance der Vortragenden teilhaben zu lassen! Auch der große Anteil an jungen Besuchern hat gezeigt, dass ein Science Slam dazu geeignet ist, mehr Lust auf Neurowissenschaft und Neurologie zu schaffen. Herr Professor Schwab, vielen Dank für das Gespräch. Die Fragen stellte Elke Klug, Redaktion connexi. Bild: Mehr als 700 Besucher strömten zur Veranstaltung „Geistesblitze“, dem ersten „Science Slam“ auf einem DGN Kongress. Bildcopyright: DGN / T. Rosenthal. Im Interview: Professor Dr. med. Dr. h.c. Stefan Schwab, Erlangen stefan.schwab@uk-erlangen.de aus connexi 1-2017 September 2016 bis Februar 2017 Neurologie, Neurointensivmedizin, Psychiatrie DGN 2016, DGPPN 2016, ANIM 2017 Kongressberichte