Lebensstil und Adipositas
Anja Lamprecht
Neuromodulation bei Adipositas – eine Übersicht von Jennifer Schmidt, Köln In den vergangenen Jahren betonten Forscher vermehrt die Problematik steigender Prävalenzen von Übergewicht und Adipositas weltweit. So mussten 2017 in Deutschland 43,1 % der Frauen und 62,1 % der Männer als übergewichtig eingestuft werden. Bei der Adipositas, also der „Fettsucht“, liegen die aktuellen Zahlen bei 14,6 und 18,1 % [1]. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt einen konstanten Anstieg der Prävalenzen bei Erwachsenen wie auch Kindern, der nicht länger auf westliche Industrienationen beschränkt ist [2]. Dieser Trend setzt sich in Prognosen fort, nach denen im Jahr 2030 weltweit 42 % der Menschen adipös sein werden [3]. Bedrohlich sind diese Entwicklungen aufgrund starker Gesundheitsrisiken und hoher gesamtgesellschaftlicher Kosten, die mit Übergewicht und Adipositas einhergehen [4]. Dies gilt umso mehr, da ein Großteil der konservativen Therapien (z. B. Diäten) langfristig wenig effektiv ist [5]. Selbst die erfolgreichsten Maßnahmen bei schwerer Adipositas – bariatrische Operationen – weisen in Bezug auf die Gewichtsentwicklung Rückfälle und Non-Responder auf [6]. Entsprechend stehen Wissenschaft und Praxis vor der gemeinsamen Herausforderung, neue Möglichkeiten zur Optimierung der Behandlung von Übergewicht und Adipositas zu identifizieren und zu evaluieren. Abbildung 1: Verfahren zur Neuromodulation bei Übergewicht und Adipositas und ihre Zielregionen im Gehirn. Eine aktuelle Entwicklung besteht in therapeutischen Ansätzen, die gezielt neuronale Veränderungen des Gehirns bei Adipositas adressieren. Diese Techniken können unter dem Begriff der Neuromodulation zusammengefasst werden. Ziel dieser Maßnahmen ist es, pathologische Veränderungen der Gehirnaktivität zu behandeln, um dysfunktionales Verhalten an der Wurzel verändern zu können [7]. Hierbei werden insbesondere neuronale Prozesse adressiert, welche mit erhöhter Impulsivität, Belohnungssensitivität und verringerten Selbstregulationskapazitäten bei Adipositas einhergehen. Diese sind vorwiegend in präfrontalen und limbischen Gehirnarealen lokalisiert [8]. Den eingesetzten Neuromodulationsmethoden ist gemeinsam, dass diese durch technisches Equipment appliziert werden, welches gezielt spezifische Aktivität des Nervensystems verändert. Ihr Einsatz ist in der Regel reversibel und erfordert eine fortlaufende Behandlung [9]. Zu unterscheiden sind non-invasive und invasive Verfahren, deren Einsatz je nach Schweregrad und Symptombild abzuwägen ist (Abbildung 1) [7]. Nichtinvasive Verfahren Neurofeedback bezeichnet ein non-invasives Verfahren, mit dem Personen die aktive Kontrolle der eigenen Gehirnaktivität erlernen. Mithilfe entsprechender Messapparaturen wird die Gehirnaktivität (z. B. auf Basis der Elektroenzephalographie [EEG] oder funktionellen Magnetresonanztomographie [fMRT]) erfasst und in Echtzeit an den oder die Trainierende zurückgemeldet. Dieses Feedback erlaubt, dass die trainierende Person durch operante Konditionierung individuelle Strategien entwickelt, um die Gehirnaktivität zu optimieren. Während per EEG-Neurofeedback primär Aktivitätsmuster der kortikalen Aktivität beeinflusst werden können, erlaubt fMRT-Neurofeedback auch die Veränderung subkortikaler Aktivität [10, 11]. Die Verfahren der nichtinvasiven Hirnstimulation erfordern kein aktives Trainieren der behandelten Person. Die Veränderung der Gehirnaktivität wird hier durch die Applikation elektrischer oder magnetischer Felder erzielt. Bei der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) werden Gehirnregionen durch elektromagnetische Induktion gezielt stimuliert oder gehemmt. Die wiederholte Stimulation kann langfristige Veränderungen der Gehirnaktivität herbeiführen [11]. Die transkranielle Direktstrom-Stimulation (tDCS) ist technisch weniger aufwendig. Hierbei werden eine Anode und eine Kathode an der Kopfhaut der zu behandelnden Person angebracht, über die ein milder Strom (1–2 mA) appliziert wird. Die resultierende De- und Hyperpolarisation der neuronalen Membranpotenziale kann die synaptische Aktivität verändern [7]. Invasive Verfahren Insbesondere bei schweren Ausprägungen der Adipositas, die mit komorbiden psychischen Störungen einhergehen, stellen invasive Neuromodulationsverfahren eine weitere therapeutische Option dar. Eines dieser Verfahren ist die Vagus-Nerv-Stimulation, bei der eine Sonde implantiert wird, die den afferenten Vagus-Nerv stimuliert. Diese Stimulation geht unter anderem mit einer Verminderung des Appetits einher und kann dadurch die Nahrungsaufnahme reduzieren [12]. Eine weitere Methode stellt die tiefe Hirnstimulation dar, bei der im Rahmen einer stereotaktischen Operation eine Elektrode in subkortikale Hirnregionen (z. B. Hypothalamus, N. accumbens) implantiert wird. Diese Regionen werden dann durch extern gesteuerte Schrittmacher gezielt elektrisch stimuliert [13]. Ein Blick auf den Forschungsstand zur Neuromodulation bei Übergewicht und Adipositas zeigt eine relativ dünne Datenlage, so dass finale Schlüsse zur Wirksamkeit dieser Verfahren verfrüht wären. Erste Meta-Analysen weisen auf eine signifikante Reduktion des subjektiven Heißhungererlebens durch rTMS und tDCS hin [14, 15]. Für die Anwendung des EEG-Neurofeedback zeigen erste Studien Erfolge in der Reduktion von Essanfällen [10]. Befunde zur langfristigen Gewichtsentwicklung nach Behandlung mit diesen Verfahren stehen jedoch noch aus. Für die Behandlung der Adipositas mittels invasiver Hirnstimulation mangelt es aktuell insgesamt an Humanstudien, die über Fallberichte hinausgehen [12, 13]. Ein Blick auf klinische Register zeigt jedoch eine große Zahl an Studien zur Neuromodulation bei Übergewicht und Adipositas, die aktuell durchgeführt werden [11, 12]. In den nächsten Jahren wird sich dadurch ein Wissenszuwachs ergeben, durch den die Effektivität von Neuromodulation in diesem Anwendungsfeld evaluiert werden kann. Hierdurch wird sich zeigen, ob ein gezieltes Adressieren neuronaler Veränderungen den Entwicklungen in Hinblick auf die Prävalenzen von Übergewicht und Adipositas entgegenwirken kann und sich die neuen Interventionen in der klinischen Praxis etablieren. Referenzen Statistisches Bundesamt. Mikrozensus – Körpermaße der Bevölkerung 2017. Statistisches Bundesamt 2018;11. www.statista.de, abgerufen am 03.02.2019. Ng M, Fleming T, Robinson M, et al. Global, regional, and national prevalence of overweight and obesity in children and adults during 1980–2013: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. The Lancet 2014;384:766-81. 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Obes Rev 2012;43-56. https://www.neuromodulation.com/about-neuromodulation; abgerufen am 03.02.2019 Schmidt J, Kärgel C, Opwis M. Neurofeedback in substance use and overeating: Current applications and future directions. Curr Addiction Reports 2017; 4:116-131. Dalton B, Campbell IC, Schmidt U. Neuromodulation and neurofeedback treatments in eating disorders and obesity. Curr Op Psychiatry 2017; 458–473. Göbel CH, Tronnier VM, Münte TF. Brain stimulation in obesity. Int J Obes 2017; 41(12): 1721-7. Kumar R, Simpson CV, Froelich CA,et al. Obesity and deep brain stimulation: an overview. Ann Neurosci 2015; 181–188. Lowe CJ, Vincent C, Hall PA. Effects of noninvasive brain stimulation on food cravings and consumption: a meta-analytic review. Psychosom Med 2017;2–13. Hall PA, Lowe C, Vincent C. Brain stimulation effects on food cravings and consumption: An update on Lowe et al. (2017) and a response to Generoso et al. (2017). Psychosom Med 2017;839–842. 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