HIV und HCV: Tatsächlich im Griff?

HIV und HCV - Tatsächlich im Griff? von Jörg Gölz, Berlin     Nach den Prognosen von WHO [1] und UNAIDS [2] sollen bis 2030 sowohl die HIV-Epidemie als auch die HCV-Epidemie beendet sein. Die ideologische Prägung solcher Organisationen und ihrer Prognosen zeigte sich bei der Einschätzung des Drogenkonsums. 1998 hatten beide Organisationen eine drogenfreie Welt für das Jahr 2008 vorausgesagt. Tatsächlich stieg in diesen zehn Jahren die Zahl der Drogenabhängigen von 230 Millionen auf 280 Millionen.   Auch jetzt wieder muten die Voraussagen für HIV und HCV völlig unrealistisch an. Weder die Realität der Lebensverhältnisse von Milliarden Menschen und die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen der Sexualität, noch die äußerst eingeschränkte Veränderbarkeit triebgesteuerter Impulse scheinen den Organisatoren bekannt zu sein. Zusätzlich lässt die spärliche finanzielle Ausstattung der Zukunftspläne eine Verwirklichung unrealistisch erscheinen: In riesigen strukturschwachen Gebieten der Welt müsste die komplette Infrastruktur für Prävention, Diagnostik und Therapiekontrolle aufgebaut werden. Auch gewisse Erfolge bezüglich der HIV-Epidemie in einigen Ländern Afrikas sollten uns nicht täuschen.   Weitere Verbreitung von HIV- und HCV-Infektionen zu erwarten   Für die HIV-Infektion ist noch keine heilende Option absehbar. Die HCV-Infektion kann mit 95−97%iger Sicherheit geheilt werden. Hohe Medikamentenkosten beschränken diese Möglichkeit aber weitgehend nur auf die westliche Welt mit der geringsten HCV-Prävalenz. Die weitere Verbreitung beider Infektionen geschieht durch die große Zahl der jeweils noch nicht Diagnostizierten und der nicht oder nur unzureichend Behandelten. Geschätzt werden für die HIV-Infektion weltweit etwa 16 Millionen Menschen, die andere anstecken könnten. Mit welchen Algorithmen die Zahl ermittelt wurde ist unklar. Bei der HCV-Epidemie ist es noch dramatischer: Von den 70 bis 120 Millionen HCV-Infizierten wissen 90 % nichts von ihrer Infektion. Unter den diagnostizierten HCV-Infizierten erhalten überwiegend nur die Bewohner von Nordamerika, Europa und Australien die Chance einer Behandlung, so dass grob geschätzt 60–90 Millionen potenziell Ansteckende leben. Und dies überwiegend in Regionen der Welt, in denen auch in absehbarer Zeit keine umfassende Testung und Therapie möglich sein wird.   Mehrere kaum beeinflussbare Faktoren werden für die weitere Verbreitung beider Infektionen sorgen:   Überkommene Moralvorstellungen   Die Diskriminierung der Hochrisikogruppen (Homosexuelle, IDU, Prostituierte) hemmt den Zugang zum Versorgungssystem wegen der damit verbundenen Angst vor der Offenlegung diskriminierten und teils strafbewehrten Verhaltens. Ursächlich sind die Moralvorstellungen der monotheistischen Religionen. Die anthropologische Universalie der Ablehnung des Fremd- und Andersartigen wird dadurch epigenetisch immer weiter gestärkt. So steigt in Osteuropa, in Russland und Zentralasien die Zahl der Neuinfektionen. Die katholische, die orthodoxe Kirche und der Islam bestimmen hier im Gegensatz zu westlichen Regionen weiterhin die moralischen Regeln des gesellschaftlichen Lebens.   Kaum wirksame Prävention   Ebenfalls als anthropologische Universalie muss auch der Tatbestand gelten, dass sexuelle Impulse und der Wunsch nach rauschhaften Zuständen überwiegend durch irrationale Triebfedern gesteuert werden [3]. Das beschränkt die Wirksamkeit präventiver Strategien wie „safer sex“ und „safer use“, die auf ein Verhalten nach rationalen Regeln zielen.   Vergewaltigungen in Kriegsgebieten   Eine weitere anthropologische Universalie ist der Krieg gegen andere Gruppen aus religiösen, rassen- oder machtpolitischen Gründen. Seit dem Zweiten Weltkrieg werden weltweit pro Jahr 30−45 asymmetrische Kriege geführt: aufständische bewaffnete Verbände gegen das Militär von meist diktatorisch und oligarchisch geführten Staaten. Dabei kommt es − wie bei Kriegen zwischen Nationalstaaten − jährlich zu hunderttausenden Vergewaltigungen von Frauen mit einer hohen Rate sexuell übertragener Infektionen. Neben Bangladesch, Bosnien, Ruanda, Kongo und der Ostukraine waren es zuletzt die Angriffe von Boko Haram in Nigeria mit Raub junger Frauen, Vergewaltigung und Zwangsverheiratung oder des IS gegen die jesidischen Frauen in Syrien. Auch unter den 10 Millionen männlichen Insassen der weltweiten Gefängnisse finden pro Jahr hunderttausende anale Vergewaltigungen statt. Das gilt vor allem in Russland, Mittel- und Südamerika sowie in Afrika.   Landflucht   Das Bevölkerungswachstum erzwang eine Effizienzsteigerung der Landwirtschaft durch Mechanisierung, Genprodukte und Insektizide. Deshalb findet seit 35 Jahren weltweit eine Flucht vom Land in die Großstädte statt. Inzwischen leben 1,2 Milliarden Menschen in den slums der arrival cities am Rande von 80−100 Großstädten. Nur wenigen gelingt der Aufstieg in ein geordnetes Leben in der angrenzenden Stadt. Der größte Teil lebt ohne Arbeit von Prostitution, Drogen- und Schwarzmarkthandel [4]. Es gibt praktisch keine sanitäre oder medizinische Versorgung in diesen Gebieten. Dort vegetiert eine vom Rest der Welt ausgeschlossene Menschengruppe ohne Rechte in einem Milieu hochinfektiöser Umstände [5]. Keine Regierung besitzt vorläufig die finanziellen Mittel, um diese arrival cities zu sanieren.   Ausweitung sexueller Aktivitäten   Ein weiterer nicht zu regulierender Prozess ist die tiefgreifende Ausweitung sexueller Aktivität mit infektiösen Praktiken. Unter der Norm einer singulären Lebensführung gilt es heute eine Offenheit für alles zu entwickeln, eine größtmögliche Fülle des Lebens zu verwirklichen und dieses Handeln über soziale Medien als Beleg des persönlichen Erfolgs zu darzustellen [6].   Sextourismus   Von den für das Jahr 2020 prognostizierten 2,4 Milliarden Fluggästen haben bis zu 30 % neue sexuelle Kontakte im Ankunftsland. Darunter sind die 80 Millionen Sextouristen aus Nordamerika, Europa, Australien, China und Japan. Millionen von Frauen, Jugendlichen und Kindern werden von mafiösen Zirkeln in Südamerika, Osteuropa und Südostasien vorgehalten.   Werbung und Zwang zur Selbstvervollkommnung   Das Internet bietet mit seinen auf Sex spezialisierten Seiten (z. B. Chats, One-Night-Stands, Da­ting-Portale, Chem-Sex-Partys) und den sozialen Medien (Grindr, Tinder) die rasche Befriedigung auch ausgefallener sexueller Bedürfnisse im jeweiligen Heimatland. Die Steigerung der sexuellen Erlebnisfähigkeit durch Drogen (z. B. Crystal-Meth, Kokain, GHB) ist verbreiteter Usus ebenso wie die Erprobung neuer Sexualpraktiken wie zum Beispiel Analverkehr bei heterosexuellen Paaren, der in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen hat. Sexuelle Akte finden sich immer häufiger auch bei neuen Altersgruppen (ab zwölf Jahren und bei über 60 Jahren). Alles im Zeichen des Nachweises der eigenen Attraktivität, gespeist durch die Vorgaben der Werbung und den Zwang zu lebenslanger Selbstvervollkommnung.   Fazit   Man erhält den Eindruck, dass die leitenden Mitarbeiter der Gesundheitsorganisationen Gefangene ihrer alten politischen, religiösen und propagandistischen Überzeugungen sind [7]. Ihre Welt scheint noch immer die der Jahre von 1950 bis 1980 zu sein. Damit ihre aktuellen Prognosen wahr werden könnten, müssten Impfstoffe gegen HIV und HCV entwickelt werden. Bis dahin werden HIV- und HCV-Epidemie weltweit mit regional unterschiedlichem Gewicht weiter bestehen bleiben.       Literatur: www.who.int/mediacentre/factsheets/fs164/en/ www.unaids.org/en/resources/documents/2017 Pinker St. Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur. 1. Aufl. Frankfurt a. M: Fischer Verlag GmbH, 2017 Saunders D. Arrival City. 1.Aufl. München: Karl Blessing Verlag, 2011 Bauman Z. Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. 2.Aufl. Hamburg: Hamburger Edition HIS, 2006 Reckwitz A. Die Gesellschaft der Singularitäten. 4. Aufl. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2017 Radkau J. Geschichte der Zukunft. 1.Aufl.München: Carl Hanser Verlag, 2017     Autor:           Dr. med. Jörg Gölz goelz@snafu.de                 aus connexi  5-2018 AIDS und Hepatitis Münchner AIDS und Hepatitis Tage 2018 Kongressbericht       Titelbild Gestaltung: Jens Vogelsang, Aachen  
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