HIV-exponierte Kinder (HEU) − was wissen wir und was nicht?
pascal lehwark
Plenarvortrag von Tim Niehues, Krefeld Seit der bahnbrechenden PACTG 076-Studie aus dem Jahre 1994, deren Ergebnisse eine 70 %ige Reduktion der Transmissionsrate zeigte, sind HIV-infizierte Kinder bei HIV-positiven Müttern in vielen Ländern eine Seltenheit geworden. Eine wesentliche Sorge in Bezug auf die Gabe von Medikamenten in der Schwangerschaft bei der HIV-Infektion ist die mitochondriale Toxizität. Die Aufmerksamkeit auf HIV-exponierte Kinder kam schon vor vielen Jahren zustande, weil eine französische Arbeitsgruppe darüber berichtete, dass bei Kindern, die im Rahmen der Transmissionsprophylaxe im Mutterleib antiretroviraler Therapie (ART) gegenüber exponiert waren, eine erhebliche Neuro- und Kardiotoxizität zu beobachten ist. Die Kohorte mit 2.688 Neugeborenen und Säuglingen zeigte unter anderem zwei Todesfälle und sechs Kinder mit neurologischen Komplikationen sowie Kardiomyopathien [1]. Fragestellung Die Transmissionsprophylaxe erfordert, dass jedes ungeborene Kind einer HIV-infizierten Mutter im Mutterleib systematisch ART-exponiert wird. Ist das sicher? Welche Langzeitfolgen hat das für die exponierten Kinder? Welche Daten gibt es dazu? Im Folgenden sind die Ergebnisse einer systematischen Literatursuche in PUBMED sowie nach Sichtung der Abstracts der CROI 2016 zu diesem Thema zusammengefasst. Übersicht relevanter Studien Die Mutter-Kind-Transmissionsprophylaxe ist zweifelsohne eine Erfolgsstory der modernen Medizin. In Deutschland ist mit 5.500 HIV-exponierten Kindern zu rechnen. Dies sind allerdings nur Schätzungen, genaue Daten existieren nicht. Frühgeburtlichkeit und Geburtsgewicht Frau Grosch-Wörner untersuchte die Frühgeburtlichkeit unter der perinatalen Expositionsprophylaxe und beobachtete dabei eine deutlich erhöhte Rate an Frühgeburtlichkeit bei 183 Mutter-Kind-Paaren in einer Studie, die bis 2001 durchgeführt wurde [2]. Assoziiert mit Frühgeburtlichkeit war die Einnahme von Proteaseinhibitoren durch die Mutter. Darüber hinaus ist ein negativer Effekt für das Geburtsgewicht der Kinder zu beobachten [3]. Postnatales Wachstum Die Daten zum postnatalen Wachstum sind widersprüchlich. Die meisten Studien zeigen ein normales postnatales Wachstum [4,5]. In einer europäischen Studie wurde bei Exposition gegenüber HAART/cART versus AZT mono beobachtet, dass das Gewicht, die Größe und der Kopfumfang signifikant kleiner waren [6]. Es wird vermutet, dass der Knochenstoffwechsel bei HIV-exponierten nicht infizierten Kindern verändert ist. Viele Daten zeigen aber bei sehr differenzierten Untersuchungen einen normalen Neugeborenenknochenstatus [7,8]. Herzfunktion Aufgrund der früheren französischen Daten steht die Untersuchung der Herzfunktion im Zentrum der Untersuchungen: Es zeigen sich subklinische Unterschiede in der linksventrikulären Struktur und Funktion bei HIV-exponierten und -infizierten Kindern gegenüber normalen Kontrollen im Alter von 2 bis 7 Jahren [9,10]. Psychosoziale Entwicklung Es besteht die große Sorge um eine normale psychosoziale Entwicklung von HIV-exponierten nicht infizierten Kindern (HIV-1-exposed uninfected (HEU) children). Hier wurde zuletzt 2014 eine Metaanalyse aus zwölf Studien veröffentlicht, die die kognitive Entwicklung, das Verhalten und gegebenenfalls Auffälligkeiten in diesen Parametern untersuchte [11]. Die Ergebnisse dieser Metaanalyse sind zunächst besorgniserregend, da in sieben von elf Studien signifikante Auffälligkeiten gefunden wurden. Allerdings ist zu bedenken, dass es sehr schwierig ist, für HEU eine entsprechende Kontrollgruppe zu finden, da HEU in besonderen sozialen Verhältnissen aufwachsen und die Eltern der HEU zum Teil selbst schon an der Erkrankung gestorben bzw. davon schwer beeinträchtigt sind. Immunsystem Zuletzt rückte das Immunsystem in das Zentrum der Untersuchungen. Die belgische Arbeitsgruppe um Dauby schreibt dazu „Infected but not unaffected“ [12]. Mehrere Arbeitsgruppen beschrieben bei HIV-exponierten nichtinfizierten Kindern eine expandierte Population an Memory-T-Zellen sowie eine niedrige Anzahl an naiven CT4-Zellen sowie einen reduzierten Anteil mütterlich transferierter Immunglobuline. Im südlichen Afrika wurden häufiger Infekte der oberen Atemwege, Pilzinfektionen und Erreger wie PCP, HSV, HPV, HCV und Lues und TB sowie Pneumokokken bei HEU beobachtet [13-15]. Ähnlich wie bei der Beurteilung der psychosozialen Entwicklung dieser Kinder sind hier die Daten mit Vorsicht zu betrachten, da es schwierig ist entsprechende Kontrollgruppen für diese Kinder zu finden. Gesamtoutcome In Bezug auf das Outcome aller HEU wurde in der SMARTT-Studie von 2007 bis 2012 eine Gruppe von 2.580 Kindern auf Triggerfaktoren in Bezug auf Wachstum, Gehör, Sprachentwicklung, Neurologie, psychomotorische Entwicklung, metabolische, hämatologische und andere klinisch-chemische Veränderungen untersucht [16]. Es zeigt sich hier, dass 48 % dieser Kinder Triggerfaktoren sowie eine veränderte Sprachentwicklung, einen veränderten BMI, ein verändertes Längen- oder Gewichtswachstum sowie das Auftreten von febrilen oder afebrilen Krampfanfällen oder veränderte klinisch-chemische Laborwerte haben. Bei näherer Untersuchung aller dieser Faktoren finden sich immerhin 25 % der Kinder, die die Definition als pathologischer Fall erfüllen. Die Fehlbildungsrate bei Kindern in dieser Studie betrug 175 von 2.580 (6,78 %). Dies entspricht einer deutlichen Zunahme im Vergleich zu den Daten von 2002, in denen nur ca. 3,8 % der Kinder Fehlbildungen aufwiesen, während im Zeitraum von 2008 bis 2010 8,3 % der Kinder Fehlbildungen hatten. Fazit Klare Assoziationen mit den einzelnen Faktoren der perinatalen Transmissionsprophylaxe ließen sich nicht eruieren, aber ein leicht erhöhtes Risiko scheint für die Gabe von Atazanavir und Ritonavir zu bestehen. Eine systematische Surveillance der jährlich wachsenden hohen Zahl an ART-exponierten Kindern und Heranwachsenden fehlt in Deutschland und wäre eine wichtige Aufgabe für die moderne HIV-Medizin. Schließlich ist in Bezug auf Langzeitnebenwirkungen eine jüngst im Rahmen der CROI 2016 vorgestellte Studie interessant, bei der in der französischen Gruppe 21 Krebserkrankungen auftreten [17]. Ausblick Viele Fragen sind bei Studien in Bezug auf das Thema Exposition von HIV und antiretroviralen Medikamenten in der Schwangerschaft schwierig zu beantworten: Welche Effekte hat HIV selbst? Welches sind die Effekte von chronischen Infektionen der Mutter auf den Feten? Welche Maßnahmen haben welche Nebenwirkungen, und wie lassen sich die Folgen von Minderwuchs bzw. Frühgeburt von direkten Effekten der Therapie im Mutterleib trennen? Ein großes Problem von Studien zu HEU ist, dass es schwierig ist entsprechende Kontrollgruppen zu finden, die ähnliche Umgebungs-Risikofaktoren haben. Im Vergleich zum Benefit der Transmissionsprophylaxe sind die Risiken der Exposition gegenüber antiretroviralen Medikamenten als eher untergeordnet anzusehen. Trotzdem ist die intrauterine Stoffwechselprogrammierung wichtig für das spätere Leben des Kindes. Insbesondere stellt sich die Frage, wie sich die Kombination mehrerer antiretroviraler Medikamente auf das ungeborene Kind auswirkt. Daher wäre es in Deutschland wichtig eine Kohorte von HIV-exponierten nichtinfizierten Kindern aufzubauen, die langfristig regelmäßig und systematisch nachuntersucht wird. Hier sollten das Schwangerschaftsregister der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) und die Fachgesellschaft Pädiatrische Arbeitsgemeinschaft AIDS in Deutschland (PAAD) zusammenarbeiten und für eine Qualitätssicherung in diesem Bereich sorgen. Referenzen Blanche S et al. Lancet 1999; 354:1084−1089. Grosch-Wörner I et al. HIV Medicine 2008; 9: 6−13. Jao J et al. Pediatric Infectious Diseases Journal 2014;33: 734−740. Chotpitayasunondh T et al. Pediatrics 2001; 107:E5. Briand N et al. Pediatric Infectious Diseases Journal 2006; 25: 325−332. Hankin C et al. JAIDS 2005; 40: 364−370. Tarantal AF et al. JAIDS 2002; 29: 20. Mora S et al. Bone 2012; 50: 255−258. Lipschultz SE et al. AIDS. 2015;29: 91-100. Guerra E et al. Aids Research Human Retroviruses 2016. Sherr L et al. Aids Behav 2014;18: 2059−2074. Dauby N et al. Lancet Infect Dis. 2012;12:330−340. Koyanagi A et al. Pediatr Infect Dis J. 2011;30:45–51. Cotton MF et al. Pediatr Infect Dis J 2014; 33: 10. von Mollendorf C et al. Clin Infect Dis. 2015 May 1;60(9):1346-56. Williams PL et al. AIDS 2016; 30:133−144. Hleyhel M et al. CROI 2016; Abstract #811. Bildcollage Copyrights: mauritius images / Science Photo Library / SCIEPRO, Shutterstock© hywards Autor: Prof. Dr. med. Tim Niehues, Krefeld tim.niehues@helios-kliniken.de aus connexi 5-2016 11. bis 13. März 2016 München 16. Münchner AIDS und Hepatitis Tage 2016 Kongressbericht