Die Notfallmedizin ist ein zunehmend akut werdendes Generalthema

interview mit Professor Dr. Helmuth Steinmetz* „Die Notfallmedizin ist ein zunehmend akut werdendes Generalthema“     Die 36. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG) fand vom 17. bis 19.1.2018 im Berliner Hotel Maritim statt und wurde auch in diesem Jahr traditionell als Arbeitstagung Neurointensivmedizin (ANIM) ausgerichtet. Thematische Schwerpunkte waren u.a. die Prä- und Posthospitalisierungsphase der Schlaganfallbehandlung, die Subarachnoidalblutung und die Neuroinfektiologie. Vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen, insbesondere in der Notfallmedizin, wurden in mehreren Veranstaltungen auch gesundheitspolitische Themen aufgegriffen und diskutiert. Worum es dabei genau geht, erklärte Kongresspräsident Prof. Dr. Helmuth Steinmetz, Frankfurt/M. im Interview.   Herr Professor Steinmetz, der Kongress ist in vollem Gange, entspricht der bisherige Verlauf Ihren Erwartungen als Kongresspräsident, sind Sie zufrieden mit der Location und der Organisation?  Steinmetz: Es entspricht alles voll und ganz meinen Erwartungen, sowohl was die Teilnehmerzahl angeht, die heute, am zweiten Tag schon bei 1.200 plus liegt, als auch, was den außerordentlich angenehmen Kongressort betrifft. Die Programmkommission hat aus den zahlreichen eingereichten Bewerbungen ein anspruchsvolles Programm zusammengestellt, das alle in der Neurointensivmedizin tätigen Berufsgruppen adressiert und zum intensiven kreativen Gedankenaustausch anregt. Bestes Beispiel für den interdisziplinären Charakter des Kongresses ist die Subarachnoidalblutung, ein interaktives Krankheitsbild, weil die Neurochirurgen, Neuroradiologen und Neurologen gemeinsam behandeln. Die ANIM ist der einzige Kongress, wo sich Neurologen und Neurochirurgen über gemeinsame Probleme unterhalten. Das gibt es ansonsten leider kaum noch, deshalb bin ich sehr froh darüber, dass die SAB hier Schwerpunktthema ist.   Bezüglich der Organisation habe ich mit Conventus Congressmanagement & Marketing sehr angenehme Erfahrungen gemacht. Dem Veranstalter ist ein Gutteil des erfolgreichen Kongressverlaufes zu verdanken. Welche wissenschaftlichen Highlights würden Sie hervorheben? Steinmetz: Die Erfolgsstory der letzten Jahre in der neuromedizinischen Notfallversorgung ist die Schlaganfallbehandlung. Sie hat sich, insbesondere durch die neuen technischen Verfahren der katheterbasierten Thrombektomie, seit 2015 in einer Weise revolutioniert, wie wir das lange Zeit nicht geglaubt haben. Das war auch hier wieder großes Thema, inklusive der Veränderungen, die das für die Prähospitalphase mit sich bringt. Dies auch deshalb, weil das traditionelle Zeitfenster nicht mehr gilt, es liegt vielmehr individuell verschieden bei mittlerweile bis zu 24 Stunden. Zwar kommen, je länger es dauert, immer weniger Pa­tienten für eine solche Behandlung infrage, aber wir haben gleichzeitig immer besser gewordene (bildgebende) Auswahlinstrumente, die bis zu 24 h noch kausale Therapie ermöglichen. Das zu erleben ist für einen Neurologen ein echtes Highlight, fast schon ein Wunder.     Was ist Ihre Meinung zum Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zur Transportzeit beim Schlaganfall? Steinmetz: Dieses BSG-Urteil vom 19.6.2018 zu den halbstündigen Transportzeiten betrifft die Schlaganfallversorgung besonders empfindlich. Die Transportzeitdefinition des BSG ist aus meiner Sicht abzulehnen, sowohl das Gerichtsurteil als auch die OPS-Texte, die die 30 Minuten vorgeben. Es macht ja nur Sinn, etwas als Qualitätskriterium vorzugeben, was der Leistende auch selbst steuern kann. Und die Verlegungsdauer in ein anderes Haus gehört nicht mehr zu dem, was ein Verlegender steuern kann. Sie ist eher durch seine Geografie, durch die Tageszeit, ob ein Hubschrauber zur Verfügung steht etc. bedingt und nicht durch seine eigene Qualität. Deshalb bin ich absolut gegen ein Zeitkriterium. Dieses höchstinstanzliche Urteil ist zwar gültig, aber momentan gehen unsere Hoffnungen dahin, dass die Krankenkassen als für die Versorgungsqualität ebenso Verantwortliche nicht auf der Umsetzung bestehen. Das Verlegungszeitkriterium als Maß der Vergütung ist kein geeignetes Instrument, weil es die Versorgung in der Fläche verschlechtern wird.     Bei allen großen zu verzeichnenden Fortschritten in der akuten Schlaganfallversorgung konstatieren Sie „Es gibt auch neue Fragen“. Welche sind das, und wurden im Rahmen des Kongresses Antworten gefunden? Steinmetz: Die wirklich neuen großen Fragen beziehen sich auf die Notfallversorgung − ein seit einigen Jahren bestehendes, aber zunehmend akut werdendes Generalthema in der Medizin, das auch die Neuromedizin betrifft. Es ist ein Hauptthema dieses Kongresses, das u. a. auch das Präsidentensymposium prägte. Hier haben wir einige interessante Beiträge gehört, die die aktuellen politischen Entwicklungen reflektierten. Es passt sehr gut, dass wir hier in Berlin, wo ja die Gesundheitspolitik zum wesentlichen Teil gemacht wird, das Thema „Zukünftige Weiterentwicklung der Notfallmedizin“ besprechen. Die in den letzten Jahren steigende Zahl von Patienten in Notaufnahmen, vor allem nachts und an den Wochenenden, ist ein zunehmendes Ärgernis für Ärzte wie Patienten. Es sind zu einem Gutteil Selbstvorsteller, die noch nicht einmal behaupten, dass es sich bei ihnen um einen Notfall handele, aber darauf verweisen, dass sie sich nicht anders zu helfen wissen, weil sie keine Termine bekommen, keine niedergelassenen Fachärzte verfügbar sind usw. Wie dieses ganze System in Zukunft besser aufzustellen ist, wurde in diesem Symposium diskutiert. Meines Erachtens, und das war auch die Meinung aller Beteiligten, hat dort Prof. Ferdinand Gerlach, der Vorsitzende des Sachverständigenrates, der die Bundesregierung direkt berät, ein hervorragendes Konzept vorgestellt. Sicher kann daran hier und da jetzt Kritik geübt werden, aber es wird, davon bin ich überzeugt, in der Lage sein, die Situation für die Zukunft deutlich zu verbessern.     Was beinhaltet dieses Konzept und sehen Sie realistische Chancen, dass es in naher Zukunft umgesetzt werden kann? Steinmetz: Das Grundprinzip wird sein, dass nicht mehr alle „Leistungserbringer“ die Notfälle behandeln sollen, sondern nur noch bestimmte Einrichtungen, die hierfür formulierte Kriterien erfüllen und die dafür gesondert finanziert werden sollen, um die Vorhaltung dieses Services, der ja zunächst mal nicht „profitabel“ ist, zu ermöglichen. Das Konzept besteht darin, dass man nicht mehr drei verschiedene Zugänge ins Medizinsystem hat, sondern nur noch einen. Es erscheint mir sehr schlüssig, dass nicht mehr Rettungsdienst oder kassenärztliche Ambulanz oder Zentrale Notaufnahme eines Klinikums Anlaufstelle für die Notfälle sind, sondern, dass der Fluss kanalisiert wird über eine Integrierte Notfallleitstelle unter der zentralen Nummer 116117. Diese muss in der Bevölkerung deutlich besser vermittelt werden. Von dort aus wird der Patient, idealerweise in einem sinnvolleren Verteilungsmodus als bisher, in den geeigneten Arm des Systems vermittelt. Interessant und unerwartet war für mich, dass auch im Auditorium hierzu so wenig Dissens war. Alle Beteiligten**, von denen ich gedacht habe, sie sind da „antagonistischer“, haben dem zugestimmt.   Ich rechne fest damit, dass das in den nächsten Jahren umgesetzt wird. Nachdem bereits viele Voraussetzungen geschaffen worden sind, ist jetzt quasi der letzte ein politischer Schritt, der aber z. T. noch landespolitische Grenzen überwinden muss. Es ist nun eine Frage der Gesetzgebung. Wie von Herrn Prof. Gerlach ausgeführt, sind wir aber inzwischen unter hohem Druck, eine praktikable Regelung zu präsentieren, und zwar demnächst, um nicht ganz anderen Entwicklungen Vorschub zu leisten, wie z. B. einer elektronischen handybasierten Erstversorgung, der sogenannten „Plattformökonomie“, angeboten von Firmen, die sich zwischen Patient und Medizinsystem schieben.   Andererseits haben wir in dem Symposium auch gehört, dass, während der Schwede drei Arztkontakte hat pro Jahr, der deutsche Durchschnittsbürger 20 mal im Jahr zum Arzt geht. Davon wegzukommen ist auch ein Teil der Lösung des Problems. Zweifellos ist es so, dass Überangebote im Medizinbereich die Tendenz haben, sich ihren Bedarf irgendwie selber zu schaffen. Aber je mehr Angebot da ist, desto mehr Nachfrage wird es auch in der Medizin geben. Eine Angebotsreduktion wäre sowohl ökonomisch als auch wahrscheinlich der Qualität zuträglich. Nur hat bisher eben keiner eine Angebotsreduktion erreicht, obwohl das Ziel seit Seehofer vor 20 Jahren gesteckt ist. Ich denke, es scheitert zuerst an der Politik in den Wahlkreisen.   Steht für den „sinnvolleren Verteilungsmodus“ im Notfallmanagement genügend qualifiziertes Personal zur Verfügung, damit die vorgesehene Kanalisierung funktioniert? Steinmetz: In der Tat, das ist der Systemwechsel, den wir vor uns haben. Heute ist es ja oft so, dass in Notaufnahmen oder im Bereitschaftsdienst viele Jüngere, noch relativ unerfahrene Ärzte arbeiten. Das muss sich natürlich ändern, wenn wir zu diesem neuen Modell kommen. Dort muss der Gate Keeper ein absolut erfahrener, am besten der Erfahrenste sein, um vor allem die Inanspruchnahme von stationären Aufnahmen zu reduzieren. Zurzeit ist es so, wenn man nicht genau weiß, wie man entscheiden soll oder sich der im Dienst Befindliche die Entscheidung nicht zutraut oder wenn es in Spitzenzeiten gerade zu viele „Selbstvorsteller“ sind, nimmt man eher mal stationär auf, um keinen Fehler zu machen. Das ist in der Zukunft nicht mehr hinnehmbar, da muss am Anfang der Kette der Kompetenteste stehen, der die Entscheidung trifft. Ich hoffe, dies ist mit den Zusatzqualifikationen Notfallmedizin, die wir jetzt zunehmend bekommen, gewährleistet. Derzeit würde ich sagen, haben wir wahrscheinlich noch nicht genug Leute dieser Art, aber wir werden sie in Zukunft haben. Und wenn dann solche Zentren auch mit finanziellen Zuschlägen belegt werden, die ihnen die Vorhaltung solch hochqualifizierten Personals auch ermöglichen, dann müsste sich das umsetzen lassen. Das ist heute noch nicht der Fall, aber genau das ist der Sinn dieser politischen Konzepte.     Wie würden Sie die Neurointensivmedizin verorten, hat sie im Medizinsystem den ihr gebührenden Platz, die Wertschätzung und Kernkompetenz, wie sie ihr zusteht?   Steinmetz: Das ist eine schwierige Frage. Die Neurologie gehört zu den wissenschaftlich aktivsten und kreativsten Fächern zurzeit in der Medizin. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Neuromedizin sind in den letzten Jahren bemerkenswert. Unser Appell ist der, diese Kreativität verstärkt wieder in die Neurointensivmedizin hinein zu tragen, weil uns nur das diesen Teil unseres Faches auch erhalten wird. Die Neurointensivmediziner haben vielleicht in der letzten Zeit nicht die wissenschaftliche Kreativität an den Tag gelegt, die andere Teilbereiche wie die Neuroimmunologie, die Neuro­onkologie oder die neurodegenerativen Erkrankungen auszeichnet. Wir müssen versuchen den Nachwuchs dahin zu führen, die Intensivmedizin wieder wissenschaftlich kreativ zu gestalten. Wenn man zu inaktiv wird, verliert man irgendwann die Expertise. Dem müssen wir entgegentreten, d. h. wir müssen das wissenschaftliche Engagement des Nachwuchses dahingehend fördern, Anreize setzen. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, nicht zuletzt für Chefs als hoffentlich Vorbilder.     In der Neurointensivmedizin ist zurzeit eine Qualitätsdiskussion im Gang. Woran wird Qualität in der Neurointensivmedizin gemessen, z. B. der Langzeitverlauf bestimmter neurointensivmedizinischer Maßnahmen? Steinmetz: Studien zur gesamten Intensivmedizin sind aus meiner Sicht rar. Es gibt natürlich Langzeitaussagen für bestimmte Erkrankungen, die auf ITS behandelt werden, Schlaganfall ist dafür das beste Beispiel. Aber zu vielen anderen gibt es keine Untersuchungen. Das ist im Grunde genommen der vorhin erwähnte wissenschaftliche Inhalt, an dem es z. T. etwas mangelt, und den wir liefern müssen. Das von der Gesellschaft geförderte Projekt, wie es Frau Kollegin Katja Wartenberg, Leipzig, eine der diesjährigen Preisträgerinnen des Kongresses, vorgestellt hat, ist ein solcher Versuch, die Intensivmedizin mit wissenschaftlichen Fragen wieder stärker anzureichern. Sie hat für die Subarachnoidalblutung ein neues Langzeitprojekt aufgelegt, das zu einer besseren prognostischen Aussage bei Patienten mit SAB kommen möchte.     Im Titel eines Symposiums wird die Frage suggeriert, dass die Gesundheitspolitik (sprich ökonomische Zwänge) das Behandlungsergebnis bestimmt. Wenn ja, welche Konzepte gibt es seitens der Ärzteschaft, mit der schwierigen Situation zwischen begrenzten Ressourcen und hohen Qualitätsansprüchen umzugehen?   Steinmetz: Dass die Gesundheitspolitik oder die Ökonomie die Behandlungserfolge bestimmen, sehe ich persönlich bisher nicht so. Aber die Frage, ob die Ökonomie das Verhalten der Ärzte beeinflusst, ist trotzdem berechtigt, und ich würde sie mit Bedauern bejahen. Dazu gibt es gute wissenschaftliche Untersuchungen. Indirekt kann das vermutlich auch Einfluss auf die Therapiewahl haben. Aber letztendlich ist die zunehmende Ökonomieorientierung der Medizin bisher der demokratisch herbeigeführte parteienübergreifende politische Wille, d. h. dass wir uns ökonomisch „selbststeuern“ sollen und damit Zielkonflikten ausgeliefert werden. Das ist sicher eine ungünstige Entwicklung, die durch das DRG-System noch verstärkt worden ist. Der Arztberuf muss aber unabhängig bleiben und darf sich nicht den „Göttern in Grau“ unterordnen. Ein Problem sehe ich aber auch darin, dass die Ressourcen in Deutschland im internationalen Vergleich zwar mit die besten sind, nur werden sie wohl oft an den falschen Stellen eingesetzt. Diese Sicht, wie sie z. B. auch Herr Prof. Gerlach vertritt, teile ich. Es geht um bessere Verteilung.     Herr Professor Steinmetz, vielen Dank für dieses Gespräch.        Die Fragen stellte Elke Klug     *Professor Dr. Steinmetz ist Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Frankfurt, Zentrum der Neurologie und Neurochirurgie     Bild Copyright: Alexey Kashpersky, Ukraine; Fotolia® Johan Swanepoel.   Lesen Sie diesen und weitere spannende Beiträge in unserer Online-Ausgabe.       Interview mit:           Professor Dr. Helmuth Steinmetz helmuth.steinmetz@kgu.de                 aus connexi  3-2019 NEUROLOGIE, NEUROINTENSIVMEDIZIN Neurowoche 2018, ANIM 2019 Kongressberichte       Titelbild Copyright: Alexey Kashpersky, Ukraine; Fotolia® Johan Swanepoel. Gestaltung: Jens Vogelsang    
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