Der Alkoholabhängige in meiner Praxis

Agonistischer Ansatz: Standard der Zukunft, jetzt noch mit Außenseiterstatus von Albrecht Ulmer, Stuttgart       Bei der Münchner AIDS-Werkstatt 2017 war es nur ein corner stone lab, kein Suchtsymposiumsbeitrag, wie ursprünglich vorgesehen. Eine gleichzeitige, ähnlich große Dual Disorders-Konferenz in Madrid ließ nur diese Möglichkeit zu. Freitag Vortrag dort, Samstag die Diskussion in München. In Madrid zeigte sich: Eine medikamentöse Einstellung der Alkoholabhängigkeit, hauptsächlich mit agonistischen Medikamenten, stößt auf großes Interesse und wird bereits an verschiedenen Orten Europas mit Erfolg getestet. So konnten Erfahrungen aus Bordeaux, Madrid, Stuttgart und vor allem Italien ausgetauscht werden.   Was macht uns so sicher, eine jetzt noch als Außenseiterbehandlung abgetane Methode als Standard der Zukunft zu bezeichnen?     Innovationen aus der Praxis?   Eigentlich kommt Neues doch über teure Forschung, Studien, Konzerne, Institute in unsere Behandlung. So kennen wir das aus der Geschichte der antiretroviralen Therapie. Und so kennen wir die Medizin der letzten Jahrzehnte. Die Medizin hat sich damit auch gnadenlos in eine Abhängigkeit von finanziellen Interessen begeben. Erforscht wird nur, was klare finanzielle Gewinne verspricht. Bis heute gibt es keine adäquate Struktur, davon unabhängige Fragen und Erfahrungen aus der Praxis in richtige Entwicklungsforschung zu transferieren.   Aber die Praxis ist wach. Sie ist nah an den Nöten, an den Menschen und viel unabhängiger von finanziellen Interessen, die die industriell-universitären Entwicklungen bestimmen. So zeigen sich in der Praxis oft schon um Jahre voraus Dinge, die noch lange nicht etabliert sind.   ART-Kombinationen   In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wurde in einer HIV-Expertenrunde mit etwa 40 Teilnehmern abgestimmt: Soll man das Kombinieren verschiedener antiretroviraler Substanzen empfehlen oder nicht? Die Abstimmung verlief damals 40:1 gegen das Kombinieren! Die eine Außenseiter-Gegenstimme kam von einem niedergelassenen Praktiker.   Prednisolon   Unserer Arbeitsgruppe fiel in den 1990er-Jahren auf, dass antiretroviral unbehandelte Patienten mit 5 mg Prednisolon stabiler blieben als ohne. Mangels finanziellen Interesses wurde das nie richtig entwickelt, obwohl unbehandelte Menschen damals wie die Fliegen starben und bis heute in Regionen mit unzureichender HAART-Versorgung immer noch massenhaft an AIDS sterben. Eine einzige universitär geführte Studie mit 350 Pa­tienten konnte das Phänomen erst als es schon viel weniger interessant war, bestätigen [1]. Immerhin war es ein erster klinischer Hinweis, dass Patienten von einer Reduktion ihrer Immun­aktivierung profitieren.   Agonistische Behandlung Suchtkranker   Die Begegnung mit Drogenabhängigen in der HIV-Sprechstunde machte uns darauf aufmerksam, dass wir diesen Patienten nur helfen können, wenn wir lernen, ihre Suchtkrankheit zu behandeln. Als wir uns schon in den 1980er-Jahren für die Einführung von Methadonbehandlungen einsetzten, wurden wir von den damaligen Suchtexperten als verrückte Außenseiter abgetan. Heute ist das damals Verrückte längst Standard!     Das Thema Alkoholabhängigkeit auf einem AIDS-Kongress?   So sind schon die Wege aufgezeichnet, wie das Thema Alkoholabhängigkeit auf einen HIV-Kongress kommt. Einige derer, die die Herausforderung durch HIV/AIDS umfassend ernst genommen haben, wurden dadurch auch Suchtmediziner. Dies wiederum umfassend ernst genommen, bleibt man nicht bei den Opioidabhängigen stehen. Alkohol­abhängigkeit ist ja ungleich häufiger und an viel mehr Todesfällen beteiligt als HIV und Heroin­abhängigkeit zusammen. Bei HIV/Hepatitis ist Alkoholabhängigkeit insbesondere relevant bezgl. ART-Compliance, in Einzelfällen dramatisch, eines erhöhten Infektionsrisikos, auch in Ländern mit unzureichenden Frauenrechten, großer Probleme bei Methadonsubstitution, kombinierter Hepatotoxizität. Im krassen Gegensatz zum Standard der HIV-Behandlung erweist sich der Behandlungsstandard (S3-Leitlinie 2015/16 [2]) für Alkoholabhängige in der Praxis als derart defizitär, dass man geradezu gezwungen ist, mit den Patienten nach besseren Ansätzen zu suchen. Diese Suche findet nicht, wie bei HIV, in einer weltweiten Gemeinschaft von Wissenschaftlern, Klinikern und spezialisierten Praktikern statt. Es gibt keine Basis unzähliger, namhafter Studien und keine Industrie, deren Verdienst an relativ teuren Produkten vielleicht der Motor des Ganzen wäre. Nein, wieder das Thema: Die Industrie wehrt wegen mangelnder Verdienstaussichten ab. Kein Geld – keine Studien. Obwohl die Krankheit weltweit zu den häufigsten gehört und in vielen Fällen das Leben durchgreifend zerstört, stehen wir den Erkrankten gegenüber weitgehend allein und mit leeren Händen da. Was wird uns ein Druck gemacht, alle Patienten mit Hepatitis zu behandeln! Eine Alkoholabhängigkeit ist ungleich häufiger und an viel mehr Lebenszerstörung beteiligt.     Alkoholabhängigkeit behandeln wie die meisten chronischen Krankheiten   Natürlich können wir auf Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Therapien verweisen. Aber das reicht in den meisten Fällen nicht. Unsere Praxis hat in den letzten Jahrzehnten eine weltweit einmalige Sammlung von Langzeitverläufen angelegt. Darin zeigt sich trotz aller etablierten Angebote ein regelhaft chronisch rezidivierender Krankheitsverlauf. Jede andere chronische Krankheit versuchen wir medikamentös einzustellen, erst recht, wenn sie häufig schwer verläuft. Was bei Diabetes, COPD, Hypertonie, selbst Depressionen selbstverständlich ist, steht Patienten in der Diagnose Alkoholabhängigkeit nicht etabliert zur Verfügung. Es gibt nur ein paar antagonistische Medikamente, die irgendetwas blocken. Auf Antagonisten hat man anfangs auch in der Behandlung von Opioidabhängigen gesetzt. Dieser Ansatz hat aber keinerlei historische Bedeutung erlangt.   Der agonistische Ansatz dagegen – gib ihnen doch in gut kontrollierter Weise etwas von dem, wonach sie verlangen – ist längst zum Weltstandard geworden. Für Alkoholabhängige ist es nicht viel anders. Die An­ta­gonisten kümmern vor sich hin. Nirgends zeigen sich durchschlagende Effekte. Wie bei Opioidabhängigen, sehen wir ganz andere Effekte und erreichen ein ganz anderes Behandlungsniveau, wenn wir die Krankheit mit agonistischen Substanzen medikamentös einstellen wie all die anderen chronischen Krankheiten.   In unserer Praxis sind diese medikamentösen Behandlungen längst zum nicht mehr wegzudenkenden Standard geworden. Verläufe sind damit so viel besser, dass wir davon ausgehen: In etwa so muss der Standard der Zukunft aussehen. Auch die heute als Standard bezeichnete medikamentöse Behandlung der Opioidabhängigkeit ist – wie erwähnt − lange, viel zu lange, gerade von Suchtexperten abgetan und bekämpft worden. Spuren dieses Bekämpfens prägen die Behandlung bis heute sehr negativ, und das darf sich nicht wiederholen!   Bei der Alkoholabhängigkeit können wir es viel besser machen. Suchtmedizin kann, von zahlreichen Erfolgen geprägt, richtig schön sein. Das weit verbreitete Misstrauen gegenüber Suchtkranken lässt sich oft gut strukturiert vollkommen überwinden und in ein konstruktives Miteinander überführen.   Differenziert eingesetzt, können Baclofen (Beispiel in der Abbildung), Clomethiazol und insbesondere Opioide die Situation entscheidend verbessern. Der Bedarf an medizinisch gestützten Entzügen konnte in einer retrospektiven Auswertung beispielsweise um den Faktor 80 reduziert werden [3]. Unter den Opioiden basiert unsere Erfahrung bisher am meisten auf Dihydrocodein, in Einzelfällen auch auf Buprenorphin, Morphinsulfat und auch auf Levomethadon und Methadon, mit dem sonst bei falscher Anwendung viele Alkoholprobleme gesehen werden. Eindrucksvolle Erfolgserlebnisse nähern sich dann denen in der HIV-Therapie.         Literatur: Kasang C et al. Effects of Prednisolone on Disease Progression in Antiretroviral-Untreated HIV Infection: A 2-Year Randomized, Double-Blind Placebo-Controlled Clinical Trial. PLoS One. 2016 Jan 26; 11(1): e0146678. S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ AWMF-Register Nr. 076-001 (Stand: 28.02.2016) http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html Ulmer A, Müller M. Extreme Reduktion von Alkoholrückfällen durch Dihydrocodein – und doch Vorsicht! Suchttherapie 2012; 13: 191.       Autor:           Dr. med. Albrecht Ulmer albrecht.ulmer@gmx.de           aus connexi  5-2017 AIDS, Hepatitis 2017 Münchner AIDS und Hepatits Werkstatt 2017 DÖAK 2017 Kongressberichte     Titelbild:          
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