Das Sterben ist eine Form von Leben

Ärzte im Konflikt: Lebenshilfe – Sterbehilfe von Nikolaus Schneider, Hannover   Verdrängen und Vermeidung von Sterbeprozessen und von Beziehungen zu Sterbenden banalisieren unser Leben. Gelingendes Leben fordert und umschließt einen realistischen und zugleich menschenfreundlichen Blick auf das Sterben und auf Sterbende. Ein realistischer und zugleich menschenfreundlicher Blick auf Sterbeprozesse kann in uns die Einsicht fördern: Nicht Leid oder Schmerz gebührt das letzte Wort über ein Menschenleben, sondern Liebe und Fürsorge sollen das letzte Wort über das Leben haben.   Nicht unsere Sterbe- und Todes-erfahrungen stehen einem gelingenden Leben entgegen   ... sondern deren Verdrängen und gezielte Vermeidung. Menschliche Beziehungen in unserer Welt sind immer vergängliche und von Trennungen geprägte Beziehungen. Kein irdisches Leben wird dauerhaft bleiben, ja es selbst unterliegt ständiger Wandlung. „Leben ist ein Vorlauf zum Tode“ – der Philosoph Heidegger hat einfach Recht. Wer angesichts dieser Grundkonstellation alle Sterbe- und Todeserfahrungen zu vermeiden und zu verdrängen sucht, ist naiv, bleibt unreif – ist letztendlich beziehungsunfähig. Er banalisiert sein Leben und verfehlt sein Glück.   Die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen hat diese Einsicht nach dem Tod ihres Mannes Hans van Mierlo in dem berührenden Bericht „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ festgehalten. Sie schreibt dort: „Liebe ohne Abhängigkeit gibt es nicht. … Liebe, Fürsorge, Bewunderung, Mitleid und Schuld können nur durch Bindungen geweckt werden. Sie sind die Ingredienz des Glücks, das ohne Abhängigkeit nicht existiert. Die Kehrseite der Medaille ist, dass du andere verlieren kannst, durch den Tod oder durch irgendeine andere Form der Trennung. … Die permanente Angst vor dem Tod der gegenseitigen Liebe ist der feste Begleiter des Glücks. Wer der Angst vor dem Tod entflieht, verfehlt das Glück.“ (a. a. O., S. 179f).   Dass wir uns dem Tod und dem Sterben und damit auch unserer Angst vor den Verlustschmerzen, die der Tod geliebter Menschen mit sich bringt, stellen, das gehört für mich zu einem gelingenden Leben. Auch der Glaube an Gott bewahrt Menschen nicht vor Todesängsten und nicht vor Verlustschmerzen. Aber er bewahrt sie vor dem Kurzschluss, dass Todeserfahrungen einem gelingenden Leben entgegenstehen.   Am 12. Juni 2005 hielt Steve Jobs, der Apple-Chef, vor den Absolventen der Stanford-Universität eine Rede, in der er auch über seine Krebserkrankung, über die Sterblichkeit des Menschen und über den Tod sprach. Er sagte darin die folgenden denkwürdigen Sätze: „Nun, da ich das (die Krebsdiagnose und Krebsoperation) durchgestanden habe, kann ich Ihnen das mit etwas mehr Gewissheit sagen als zu der Zeit, da der Tod noch ein nützliches, aber rein geistiges Konzept war. Niemand will sterben. Sogar die Menschen, die in den Himmel kommen wollen, wollen dafür nicht sterben. Und doch ist der Tod das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entronnen. Und so soll es auch sein: Denn der Tod ist wohl die mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels …“ Ich kann und ich will den Tod nicht wie Steve Jobs als „beste Erfindung“ des Lebens schönreden. Denn er ist und bleibt schmerzlich. Er stellt das Leben ganz grundsätzlich in Frage. Ich sehe den Tod wie der Apostel Paulus oft als einen „letzten Feind, der vernichtet wird“ (1. Korinther 15, 26). Deshalb habe ich Respekt und Verständnis für das medizinische Bemühen, gegen die Infragestellung des Lebens mit allen nur möglichen Mitteln zu kämpfen. Aber dieses Bemühen sollte geleitet sein von der Einsicht: Der Tod wird nicht durch menschliches Tun vernichtet – auch nicht durch ärztliche Kunst. So verstehe ich die Krebsforschung etwa als Kampf gegen Grenzüberschreitungen des Todes in das Leben hinein, um ihn zurückzudrängen – abschaffen kann sie ihn nicht.   Menschliches Tun bezieht sich auf das Leben. Dabei ist für mich die Einsicht fundamental: „Das Sterben ist eine Form von Leben“. Wenn also Ärzte und Ärztinnen dem Leben dienen, dann müssen sie auch ab einem bestimmten Punkt gerade auch dem Sterben dienen. Und dabei anerkennen, dass Sterben eine wichtige Lebensphase ist, die auf ein Zulassen des Todes hinausläuft. Dieser bestimmte Punkt lässt sich nicht „von außen“ – also nicht ohne den Patienten bzw. deren Angehörige – medizinisch-technisch bestimmen oder gar rechtlich festlegen. Ebenso wie es theologisch-ethisch nicht ausreicht, zur Bestimmung dieses Punktes allein auf Gottes Willen und Walten zu verweisen.   Fazit „Das Sterben ist eine Form von Leben“ – das bedeutet medizinisch und theologisch: Wir Menschen tragen Verantwortung gerade auch für diese Form von Leben. Verdrängen und Vermeidung von Sterbeprozessen und von Beziehungen zu Sterbenden werden dieser Verantwortung nicht gerecht – sie banalisieren unser Leben. Gelingendes Leben fordert und umschließt einen realistischen und zugleich menschenfreundlichen Blick auf das Sterben und auf Sterbende.   Sterbe- und Todeserfahrungen verändern das Leben   Der Moderator Jürgen Domian führt in einem seiner Bücher fiktive Interviews mit dem Tod und erzählt dabei, wie eigene Todeserfahrungen seinen Blick auf das Leben sinnvoll verändert haben [1]. In diesem Buch erzählt er aber auch eine Geschichte, die zeigt, dass Sterbe- und Todeserfahrungen das Leben von Menschen nicht nur sinnvoll verändern, sondern auch zerbrechen können. Hierin wird das Feindliche des Todes besonders schmerzlich sichtbar. Jürgen Domian beschreibt eine Begegnung mit einer älteren Frau am Grab ihrer geliebten Verstorbenen: „Im Grab lagen ihr Mann und ihre beiden erwachsenen Kinder. Der Sohn war neunundzwanzig Jahre alt geworden, die Tochter fünfundzwanzig. ‚Wir sind immer eine so glückliche Familie gewesen – bis vor neun Jahren die Katastrophe kam‘, sagte die Frau. Ihre Tochter hatte, als sie rückwärts mit dem Familienwagen aus der Garage fuhr, nicht bemerkt, dass ihr Bruder unter dem Auto lag. Er wollte irgendetwas an der Auspuffanlage reparieren. Zudem hatte sie den Kopfhörer eines Walkmans auf und konnte deshalb die Rufe ihres Bruders nicht hören. … Beim Zurücksetzen fuhr sie dann über den Hals bzw. den Kopf des Bruders. Er war sofort tot. Zwei Monate später nahm sie sich mit Schlaftabletten das Leben, die Schuldgefühle waren für sie unerträglich geworden. Wiederum einen Monat später erhängte sich der Vater der beiden, weil er die Seelenschmerzen nicht mehr hatte aushalten können. Zurück blieb die Frau. Das Ehepaar hatte keine weiteren Kinder. Das also war die Geschichte dieses Grabes. Die Frau erzählte sie mir ganz sachlich, konzentriert und ohne zu weinen. Sie hatte vermutlich keine Tränen mehr. Am unteren Rand des Grabsteins stand zu lesen: Der Liebe Ende ist das Leid.“   Fazit Ein realistischer und zugleich menschenfreundlicher Blick auf Sterbende und Trauernde kann in uns die Einsicht fördern: Nicht dem Leid soll das letzte Wort über die Liebe gebühren, sondern Liebe und Fürsorge sollen das letzte Wort über das Leben haben – auch angesichts von Leid. Die Sorge dafür, dass menschliches Leiden nicht das Ende eines Lebens dominiert, dass Leid die Liebe nicht zerstört, gehört für mich zu den Aufgaben sowohl von Pfarrern und Pfarrerinnen wie auch von Medizinern und Medizinerinnen. „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, so dass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können.“ (Hoheslied 8, 6f). Diese Charakterisierung der Liebe durch das Hohelied der Bibel macht Hoffnung.   Das Sterben ist eine besonders intensive Phase des Lebens   ... die medizinisch und ethisch verantwortlich gestaltet werden kann. Michael de Ridder beginnt sein lesens- und nachdenkenswertes Buch „Wie wollen wir sterben“ [2] mit dem Zitat eines unbekannten attischen Tragödiendichters: „Wer weiß schon, ob das Sterben nicht eigentlich das Leben und das Leben nicht eigentlich das Sterben ist.“ Als „Vorwort“ seines Plädoyers für Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende erzählt er eine Episode aus seiner Zeit als junger Stationsarzt: Der Aufnahmearzt kündigte ihm telefonisch einen alleinstehenden 64-jährigen Patienten im Endstadium einer Tumorerkrankung an: „Tu den am besten in ein Einzelzimmer, der stirbt sowieso bald.“ In dieser Situation habe er dann begriffen: „Das Sterben gehört ins Leben – unter Menschen! Und nicht in die Verlassenheit eines Einzelzimmers.“   Er mutete fünf anderen Patienten den Sterbenden zu. Die Patienten des Sechsbettzimmers organisierten untereinander eine intensive Betreuung für den Todkranken: Sie saßen an seinem Bett, fütterten und wuschen ihn und lasen ihm aus der Zeitung vor. Fünf Tage später starb er in ihrer aller Anwesenheit. Und einer der Mitpatienten sagte: „Diese fünf Tage meines Lebens waren wichtig, ich werde sie nie vergessen.“   Am Ende seines Buches, in seinem Schlusskapitel „Ausblick“, erhebt Michael de Ridder folgende Forderung an seine ärztlichen Kollegen und Kolleginnen: „Die erste Erwartung an einen Wandel des ärztlichen Selbstverständnisses betrifft das Verhältnis des Arztes selbst zu Sterben und Tod. Sterben muss als kreatürlicher Vorgang angenommen werden, muss dem Arzt wie jedem Menschen zur zweiten Natur werden! Der Tod an sich ist kein biologischer Unfall und kein medizinischer Fehlschlag, … Es sind allein das vorzeitige Sterben, der Tod unter vermeidbaren Umständen, aber auch der auf schrecklichem, weil schmerzhaftem Weg oder der unendlich langwierig sich nähernde Tod, deren sich die Medizin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu erwehren hat. Ein Fehlschlag am Lebensende ist es allerdings, wenn die Medizin es zulässt, dass ein Patient in ihrer Obhut qualvoll und elend stirbt.“   Ich vermag nicht zu beurteilen, inwieweit diese Forderung und Mahnung de Ridders an seine Kolleginnen und Kollegen noch immer berechtigt und notwendig ist. Für uns Theologen und Theologinnen bleibt es eine lebenswichtige Forderung, die alte Bitte eines Psalmbeters für unser eigenes Leben wie für unsere Verkündigung und Seelsorge immer neu durchzubuchstabieren: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90, 12). Die Vergänglichkeit unseres irdischen Lebens gehört zu den Sachverhalten, die wir hinnehmen müssen. Sie ist kein Problem, das wir mit medizinischen Möglichkeiten siegreich bekämpfen oder lösen könnten. Sie ist aber auch kein Sachverhalt, den wir mit theologischen Möglichkeit klein- oder schönreden sollten.   Unser menschliches Leben ist begrenzt. Jeder Tag, den wir erleben, zählt. Ob wir ihn genießen oder erleiden, gestalten oder verschlafen, wertschätzen oder vergeuden – jeder Tag zählt und führt uns alle wieder ein Stück näher an unsere Sterbestunde heran. Und für unsere Sterbestunde wünschen wir uns wohl alle, dass wir nicht einsam und abgeschoben von unerträglichen Schmerzen gequält werden.   Zu einer verantwortlichen Lebens- und Sterbensfürsorge gehört das liebevolle, einfühlsame und hilfreiche Verhalten einzelner Menschen: Ärzte, Pflegende, Seelsorgerinnen und Angehörige. Unverzichtbar sind dabei aber auch fürsorgende Strukturen, etwa im Blick auf die Palliativmedizin, auf Hospize, auf gut ausgebildete und gut bezahlte Pflegekräfte. Und auch die gerade in unserer Gesellschaft und Politik geführte aktuelle Diskussion über die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen begleiteten und assistierten Suizid gehört für mich in diesen inhaltlichen Kontext.   Fazit Gottes Ewigkeit und die Vergänglichkeit des Menschen sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden, um dadurch das menschliche Leben und Sterben klein und bedeutungslos zu machen. Oder gar, um dadurch menschliche Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit für die Gestaltung der Sterbephase theologisch zu begründen. Unsere Lebenszeit und die Qualität unserer Sterbephase sind nicht belanglos – sie sind unserer Verantwortung übertragen.     Referenzen: 1. Domian J. Interview mit dem Tod. Gütersloher Verlagshaus, 2012. 2. de Ridder M. Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der     Hochleistungsmedizin. Pantheon Verlag, 2011       Autor:           Dr. h.c. Nikolaus Schneider rv@ekd.de         aus connexi 3-2015 4. bis 7. März 2015 Frankfurt am Main 26. Deutscher Schmerz- und Palliativkongress Konferenzbericht
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