Ärztliche Ethik und ökonomisierte Medizin
Der Kranke als Kunde – die Gesundheit als Ware von Paul U. Unschuld, Berlin Das Gesundheitswesen besitzt heute ein höchst beeindruckendes Potenzial, Krankheiten zu heilen und Leiden zu mindern. Gleichzeitig naht das Ende der klassischen Medizin. Technischer Fortschritt, geänderte Formen der Wissensbildung, gesellschaftlicher Wandel und an erster Stelle die zunehmende Ökonomisierung haben die Ärzte als zentrale Entscheidungsträger verdrängt und neue Akteure an die Macht gebracht, die erstmals in der Geschichte den Kranken als Ressource und Gesundheit als Ware betrachten. Die Verlautbarungen der Parteien in Deutschland lassen auf eine dauerhafte Große Koalition in der Gesundheitspolitik schließen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU hält in den Räumen der Deutschen Bank eine Konferenz ab zu dem Thema „Gesundheitswirtschaft statt Staatsmedizin.“ Die ehemalige SPD-Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein stellt fest: „Früher war der Gesundheitssektor eine Last. Das gilt nun nicht mehr.“ Der erfolgreichste private Klinik-Investor Deutschlands, Eugen Münch, spricht es unumwunden aus: „Ich behaupte sogar, dass Medizin im Wesentlichen ein Konsumgut ist. Konsum lässt sich kaum mit Daseinsvorsorge umschreiben, sondern gehört zu dem, was wir mit Wirtschaft umschreiben.“ Und die neue Zeitschrift „Gesundheitswirtschaft“ erläutert die Metamorphose: „An seiner Krise kann das Gesundheitswesen genesen. Je weiter sich der Staat und quasistaatliche Institutionen zurückziehen, desto erfolgreicher kann sich ein freiheitlicher Geist entfalten. Die Metamorphose hat längst begonnen. Aus dem Gesundheitswesen erwächst die Gesundheitswirtschaft.“ Die Sorge um die Gesundheit der Gesamtbevölkerung war zwei Jahrhunderte lang politisches Primat. Mit Druck und Erziehung setzte der Staat eine Gesundheitspolitik durch, deren Ergebnisse weltweit ihres Gleichen suchen. Hintergrund dieser Anstrengungen waren freilich keine humanitären Erleuchtungen der vordemokratischen Staatslenker im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Seit Jahrhunderten hatten Ärzte auf die Gesundheitsrisiken hingewiesen, denen jeder Mensch tagtäglich ausgesetzt ist. Die Wohlhabenden waren wohl auch imstande, falls sie das überhaupt für sinnvoll hielten, den entsprechenden medizinischen Ratschlägen zu folgen. Eine staatliche Gesundheitspolitik, die der Bevölkerung insgesamt die Gefährdung der Gesundheit verringert und die Behandlung von Kranksein erleichtert hätte, gab es nicht. Erst im späten 18. Jahrhundert setzte sich die Erkenntnis durch, dass der einzelne Mensch nur bedingt für seine Gesundheit sorgen kann. Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen und auch die Umweltbedingungen können krank machen, bedürfen jedoch gesamtgesellschaftlicher Initiativen, um als Krankheitsrisiken minimiert zu werden. Das Motiv für die Regierenden, nun erstmals in der Geschichte hier einzugreifen und sich aktiv zu engagieren, lag in der Einsicht der jungen europäischen Nationalstaaten, dass sie in der Konkurrenz mit den Nachbarstaaten nur über Produktivkraft der Industrie und Wehrkraft der Volksheere einen Vorteil gewinnen konnten. Beides verlangt eine gesunde Bevölkerung – in allen Schichten. Gesundheit wurde nun politisches Mittel zum Zweck. Der Zweck war der gesunde Nationalstaat. Das ist heute Schnee von gestern. Das Konzept einer Volksgesundheit hat ausgedient Die Volksheere, die Millionen junger Männer erforderten, sind nicht mehr nötig. Die industriellen Arbeitsplätze für die weniger gut ausgebildeten Massen sind verschwunden. Der Druck auf die Politik, Gesundheit für alle zu erzwingen, ist nicht mehr vorhanden. Das Feld kann schrittweise dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte überlassen werden. Das Konzept einer Volksgesundheit hat ausgedient. Es stammt aus einer Epoche, als „das Volk“ so etwas wie eine erweiterte Familie war. Solidarität war kein Fremdwort, sondern in „der Volksgemeinschaft“ selbstverständlich. Der Berliner Pathologe Rudolf Virchow brachte es auf den Punkt: „Politik ist Medizin im Großen!“ Diese Aufforderung haben die Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen dann wörtlich genommen. Nachdem die Mikroben, die dem Menschen und damit der Volksgesundheit gefährlich werden können, identifiziert waren, weiteten sie die Deutung, was ein „Schädling“ der Volksgemeinschaft sei, aus und versuchten die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, die ihnen zuwider waren. Der Begriff und der Terminus „Volksgesundheit“ wurde so ein und für allemal desavouiert. Neue Spieler und neue Rollen auf der Bühne New Public Health ist das neue Stichwort. Es bietet die Ideologie, die Menschen wieder selbst in die Pflicht zu nehmen. Die Politik öffnet neuen Entscheidungsträgern Tür und Tor; die alten Entscheidungsträger, Ärzte und Apotheker, stören, da sie ausgebildet werden, ihre Patienten, die sie nun „Kunden“ nennen sollen, nach medizinisch-fachlichen und medizinisch-ethischen Kriterien zu behandeln. Da fehlt etwas Entscheidendes – das Denken in Renditeerwartungen. Habgier und Ausnutzung aller gewinnträchtigen Spielräume des bisherigen Gesundheitswesens durch Ärzte und Apotheker hat es wohl stets gegeben. Die neue Zeit legalisiert nun nichtmedizinische Instanzen zur Gewinnmitnahme in viel größerem und legalem Maßstab. So betreten neue Spieler die Bühne, allen voran die Investoren, und bisherige Mitspieler nehmen neue Rollen an, allen voran die Gesetzlichen Krankenkassen. Sie agieren als eigenständige Unternehmen, haben Gewinn und Selbstdarstellungsinteressen und wetteifern mit den Ärzten um das Vertrauen, die wahren Vertreter gesundheitlicher Interessen der Bevölkerung zu sein, um so ihren politischen Einfluss zu mehren. Sie organisieren Kampagnen, um die angebliche Gier der Mediziner aufzuzeigen und haben selbst keine Scheu, durch „zielgerichtetes Verkranken der Versicherten“ ihre Einkünfte aus dem Morbiditätsrisiko-Strukturausgleich zu erhöhen und für ihre eigenen Interessen zweckzuentfremden. Ärzte und Apotheker werden marginalisiert und zu Dienstleistenden degradiert, die an den Fäden der Interessen derer hängen, die zwar kein Medizinstudium absolviert und nie für einen Kranken sorgen mussten, die aber wissen, wie man aus der Krankheitsbewirtschaftung die beste Rendite erzielt. Die Ärzte aus ihrer Sonderstellung auf ein „normales“ Niveau der Berufstätigen herabzuholen, ist zudem explizites Ziel derer, die in diesen Veränderungen eine positive gesellschaftliche Veränderung sehen. Der Preis, den die Allgemeinheit für die neuen Strukturen zahlen muss, liegt im Verlust des Vertrauens. Niemand kann mehr sicher sein, dass die therapeutischen Ratschläge, die er in der einzelnen Praxis, in der Klinik oder durch die Behörden erfährt, aus besten medizinisch-fachlichen Motiven erfolgen und nicht aufgrund kommerzieller Rendite-Erwägungen. Für die Ärzte ist es jedenfalls sinnlos, wie noch vor wenigen Jahren mit Plakaten auf die Straße zu gehen und sich bei einzelnen Politikern über ihre von vielen zunehmend als unangenehm empfundene neue Abhängigkeit zu beschweren. Die gegenwärtigen Tendenzen, die Arzt-Patienten-Beziehung in eine von Zahlen und eindeutigen technischen Parametern geleitete Ingenieurstätigkeit umzuwandeln, sind vielfach beschrieben worden. Eine Rückkehr zu einem „wahren Arztsein“, unbeeindruckt von diesen Tendenzen, muss eine Illusion bleiben. Die Makro-Dynamik unseres Wirtschaftssystem folgt ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und beeinflusst das Gesundheitswesen – ungeachtet, wer am Ruder der Gesundheitspolitik steht und ungeachtet auch der Einzelinteressen der einen oder anderen historisch gewachsenen Berufsgruppe. Nur die nüchterne Analyse, welche Freiräume es für gruppenspezifisches Handeln gibt und wie diese Freiräume von den einzelnen Interessengruppen genutzt werden, kann zu erfolgreicher Durchsetzung der eigenen Interessen führen. Referenz und Buchtipp Paul U. Unschuld: Ware Gesundheit. Das Ende der Klassischen Medizin erschienen beim C. H. Beck München. 3. Auflage 2014 Copyright Bild: Shutterstock® Tero Vesalainen Autor: App PHOTOSHOW Prof. Dr. phil. Paul U. Unschuld, M.P.H. unschuld@charite.de aus connexi 8-2017 KARDIOLOGIE, HERZCHIRURGIE 2017 Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie 2017 Kongressbericht