Religion und Palliation

Palliative Care und praktiziertes Judentum – ein Widerspruch?von Stephan M. Probst, Bielefeld   In der palliativmedizinischen Begleitung jüdischer Patienten am Lebensende kommt es nicht selten zu Missverständnissen und Konflikten zwischen Angehörigen und Behandlungsteams. Mitunter befürchten die Familien, dass ihre Angehörigen einer würdenehmenden Medizin ausgeliefert sein könnten oder ihnen Chancen vorenthalten würden. Generationenübergreifende Traumata und verstörende Erinnerungen an das schreckliche Sterben in der Shoa erklären die verbreitete Angst davor, dass das medizinisch indizierte Zurücknehmen von Flüssigkeitsgaben am Lebensende einen qualvollen Tod durch Verhungern und Verdursten zur Folge haben könnte. Zusätzlich gibt es auch die Sorge, dass ein zu großzügiger Einsatz von Opiaten versteckt aber aktiv das Leben verkürzen würde. Oft wird daher die Begleitung durch Palliative-Care-Teams oder die Aufnahme in ein Hospiz von vornherein abgelehnt und dies teils religiös begründet. Aber lässt sich die Ablehnung von Palliative Care religiös begründen? Leben und Tod im Judentum Die absolute Verabscheuung des Todes einerseits, jedoch die unbedingte Wertschätzung von Gesundheit und irdischem Leben andererseits sind fundamentale Prinzipien jüdischen Denkens. Im Judentum gilt alles, was Leben schenkt oder Leben erhält, als gut und gesegnet. Alles, was den Tod bringt oder mit dem Tod in Berührung kommt, ist böse, verflucht und unrein. Die religiöse Begründung dieser strengen Trennung zwischen Leben und Segen auf der einen, und Tod und Fluch auf der anderen Seite, sowie der Verpflichtung, dass der Mensch sich für das Leben und damit für das Gute entscheiden müsse, finden wir in den fünf Büchern Mose, der Tora. Sie gilt nach jüdischer Vorstellung als göttlich geoffenbarte Lehre: „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst.“ (Dtn. 30,19). Nach jüdischem Verständnis ist das Leben selbst in seinen allerletzten Augenblicken von unendlichem und unteilbarem Wert. Ebenso gilt auch ein Leben mit großen Einschränkungen und Einbußen an Lebensqualität als heilige Leihgabe des Schöpfers. Der Mensch hat keinen Besitzanspruch auf dieses nur geliehene Gut und soll stets „das Leben wählen“, also achtsam damit umgehen und es bewahren. Folglich ist er dazu verpflichtet, alles Erdenkliche zu tun, sein Leben zu erhalten. Jede Handlung und jedes Unterlassen, die das Leben auch nur um einen Augenblick verkürzen könnten, gelten im jüdischen Religionsgesetz als Entscheidung gegen das Leben und damit als Mord. Pikuach nefesch – Die Pflicht Leben zu retten Diese „endlose Lebenspflicht“, wie Leo Baeck sie nannte [1], ist neben der Anerkennung der Einzigkeit des Schöpfers gewissermaßen die Essenz des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha. Weil es in der Tora heißt, dass die göttlichen Gebote dem Menschen gegeben wurden, damit er durch sie lebe (Lev. 18,5), relativiert sich die Halacha in all jenen Fällen sogar selbst, in denen die Befolgung religiöser Gebote den Erhalt von Leben behindern könnte. Dies bedeutet, dass außer den drei Kardinalsünden Mord, Blutschande und Götzendienst alle anderen religiösen Verbote und Vorschriften missachtet und übertreten werden dürfen oder sogar müssen, wenn das starre Befolgen der Gebote sonst Leben gefährden würde. Das daraus abgeleitete und über allem stehende moralische Leitprinzip heißt auf Hebräisch Pikuach nefesch. Es ist die (nahezu) absolute Verpflichtung, Leben zu erhalten und Leben zu retten.So sehr das Judentum mit dem Tod in erbitterter Feindschaft steht, so wenig ignoriert oder beschönigt es indes die Tatsache, dass unser aller Leben zwangsläufig und unumkehrbar tödlich verläuft. In der hebräischen Bibel heißt es: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit, …“ (Prediger, 3,1).Juden werden aber niemals mit dem eigenen Tod oder dem Sterben ihrer Angehörigen Frieden schließen können – der Tod bleibt böse. Sie werden die Realität des Todes nur akzeptieren können – und müssen. Diese Akzeptanz bringen gläubige Juden jedes Mal zum Ausdruck, wenn sie vom Tod eines Menschen erfahren und den Segen sprechen: „Baruch Dajan ha‘Emet“ (deutsch: Gelobt ist [Gott, er ist] der wahre Richter). Der Sterbeprozess darf nicht beschleunigt, aber auch nicht verlängert werden Genauso wie das jüdische Religionsgesetz alle Maßnahmen verbietet, die das Sterben absichtlich beschleunigen, verbietet es umgekehrt auch alle Maßnahmen, die den Sterbeprozess eines Menschen künstlich in die Länge ziehen und die Seele davon abhalten, den Körper zu verlassen. Ausführlich wird dies bereits in den bis heute autoritativ gültigen Kodifizierungen des jüdischen Religionsgesetzes und Kommentaren aus dem 16. Jahrhundert ausgeführt. Als Beispiele werden in den Texten Methoden genannt, die nach dem damaligen Stand der Wissenschaft oder volksmedizinischen Überzeugungen als „medizinische Sterbehindernisse“ angesehenen wurden. Durchaus dürfen wir darin die Analogie zur unnötigen Medikalisierung des Sterbens in unserer hochtechnisierten modernen Medizin erkennen: „Wenn ein Hindernis besteht, das die Seele eines Sterbenden hindert, seinen Körper zu verlassen, wie das Geräusch des Holzhackens eines Holzfällers in der Nähe des Hauses, in dem der Sterbende liegt, oder Salzkristalle, die jemand auf die Zunge des Sterbenden gelegt hat, so darf man diese Hindernisse beseitigen. Es ist nur das Beseitigen eines Hindernisses, aber kein Akt, der den Tod herbeiführt.“ (Schulchan Aruch, Mappa zu Jore Dea 339,1). Die halachischen Autoritäten unserer Zeit betonen, dass die Möglichkeiten der modernen Medizin die Grenzen zwischen gebotener Lebensverlängerung und verbotener Verzögerung des Sterbeprozesses unscharf haben werden lassen. Daher muss stets im konkreten Einzelfall entschieden werden, ob ein Kranker im Verständnis der Halacha bereits als Sterbender gilt und ob damit das Fortführen einer auf kurative Ziele ausgerichteten Therapie bloß das Verlängern von Qual, also verbotenes Verzögern des Sterbeprozesses bedeutet [2]. Grundhaltungen in Palliative Care und im Judentum Die Grundhaltung moderner Palliativmedizin ist unbedingt lebensbejahend. Die European Association for Palliative Care betont in ihrer Definition, dass Palliativmedizin das Leben bejaht und das Sterben als natürlichen Prozess akzeptiert. Ausdrücklich will sie weder den Eintritt des Todes beschleunigen, noch diesen hinauszögern (EAPC 2009). Obwohl diese Haltung ganz der jüdischen Tradition im Umgang mit Sterben und Tod entspricht, ist in der jüdischen Gemeinschaft die Befürchtung groß, der Ansatz von Palliativmedizin könnte ein fatalistischer Ansatz sein und mögliche Lebensverlängerung zu früh aufgeben. Weil die Verpflichtung zur Lebenserhaltung im Judentum ein so fundamentales Gebot ist, neigen praktizierende Juden eher dazu, die Möglichkeiten der Medizin zu überschätzen und alles medizinisch nur Machbare einzufordern, unabhängig davon, wie gering die Erfolgsaussichten auch sein mögen. Oft ist es aber eine von Ärzten suggerierte falsche Hoffnung, die dazu führt, dass lieber ein künstliches In-die-Länge-Ziehen des Sterbens in Kauf genommen wird, als das (gar nicht mehr bestehende) Risiko einzugehen, das gottgeschenkte Leben zu früh aufzugeben. Bikkur Cholim – Die Begleitung Kranker und Sterbender Um Kranke, die ihre spirituelle Heimat im Judentum sehen, zu halachisch wirklich richtigen Entscheidungen zu befähigen, müssen Ärzte ihnen, ihren Familien und gegebenenfalls auch den zu Rate gezogenen Rabbinern bei der Unterscheidung helfen, ob diskutierte medizinische Maßnahmen tatsächlich Leben verlängern oder ob sie einen bereits begonnenen Sterbeprozess nur verlängern. Dies erfordert neben großer Erfahrung auch das Vertrauen der Betroffenen und viel Fingerspitzengefühl, denn im Judentum ist das plumpe Eröffnen einer infausten Prognose verpönt, weil es Hoffnung nehmen und nach traditioneller Vorstellung schädlich oder sogar lebensverkürzend sein könnte. Zugleich sollen Sterbende aber auch angehalten werden, das Sündenbekenntnis zu beten und ihre spirituellen und irdischen Dinge zu regeln. Von Schmerzen sollen sie befreit werden und dass Sterbende nicht mehr essen und trinken wollen, ist der jüdischen Tradition nicht fremd. Praktiziertes Judentum und Palliative Care sind absolut kompatibel.Nur weil gläubige Juden die strikte Befolgung der Halacha einfordern, muss ihnen deswegen palliativmedizinische Expertise am Lebensende also nicht verwehrt bleiben. Unbedingt sollten die ehrenamtlichen Helfer aus den Bikkur-Cholim-Gruppen der jüdischen Gemeinden früh in die Behandlung schwerstkranker und sterbender Juden einbezogen werden, wenn diese einverstanden sind. Die Bikkur-Cholim-Gruppen der jüdischen Gemeinden sind die Institutionalisierung des jüdischen Gebots, dass jeder Einzelne, aber auch die Gemeinschaft als Ganzes sich um die Kranken kümmern und diese begleiten muss. In den größeren jüdischen Gemeinden Deutschlands sind die Bikkur-Cholim-Gruppen fest etabliert, und ihre Mitglieder sind als ehrenamtliche Helfer durch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) geschult und gut auf ihre Funktion als Kulturdolmetscher vorbereitet. Die Zusammenarbeit zwischen Akteuren des professionellen Gesundheitssystems und den Bikkur-Cholim-Gruppen kann wesentlich zur Akzeptanz und Inanspruchnahme palliativmedizinischer und hospizlicher Angebote beitragen. Bikkur Cholim ist das verstehende Begleiten Kranker, das sich radikal an deren Bedürfnissen und ihren individuellen Lebensentwürfen orientiert. Ein zentraler jüdischer Gedanke dabei ist, dass in der Begegnung mit dem Kranken immer auch die Begegnung mit dem Göttlichen geschieht. Deshalb soll man Kranken stets mit Demut begegnen und sich ganz auf sie einlassen. Im Sinne Martin Bubers muss man, um echte, unmittelbare Begegnungen überhaupt erfahren zu können, alle Standards, Vorkonzepte und mitgebrachten Antworten, ganz der talmudischen Tradition folgend, beiseitelassen oder „einhüllen“: „Wer einen Kranken besucht, […] hülle sich […] ein und setze sich ihm [auf Augenhöhe] gegenüber, denn die Gottheit befindet sich über der Kopfseite des Kranken.“ (Babylonischer Talmud Schabbat 12b).  Das Sich-Einhüllen ermöglicht erst das Sich-Einlassen auf den anderen, oder wie ein anderer großer jüdischer Denker unserer Zeit, Emmanuel Lévinas, es formuliert, dem Antlitz des Anderen zu begegnen. Nur so können individuelle Antworten gefunden werden und nichts schützt besser vor stereotypisierenden und kategorisierenden Standards einer falsch verstandenen Kultursensibilität [3].    ReferenzenBaeck L. Das Wesen des Judentums, J. Kaufmann, Frankfurt a.M. 1922; 184.Kuera T. Halacha, Aggada und Sterbehilfe. In: Klapheck E. (Hrsg.) Jüdische Positionen zur Sterbehilfe. Hentrich & Hentrich, Berlin 2016: 61-87.Probst SM. Die palliativmedizinische Begleitung jüdischer Patienten und Palliative Care aus jüdischer Sicht. Z Palliativmed 2019; 20: 31-38.    Bild Copyright:  Stephan M. Probst   Autor:           Dr. med. Stephan M. Probststephan.probst@klinikumbielefeld.de                 aus connexi  8-2019SCHMERZPALLIATIVMEDIZINKongressberichte       Titelbild Copyright: mauritius images / Science Photo Library / Kateryna Kon Gestaltung: Jens Vogelsang  
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