Covid-19 und das Nervensystem

Die SARS-CoV-2-Infektion ist neurotrop  Zwar sind bei Patienten, die an COVID-19 erkranken, primär die Atemwege betroffen, jedoch wurde schon in verschiedenen Hotspots der SARS-CoV-2-Infektion recht früh beobachtet, dass neben der Lunge auch andere Organe, z. B. das Herz-Kreislauf- [1] und das zentrale Nervensystem geschädigt werden können [2]. Ein hoher Anteil der Infizierten hat neurologische Symptome wie Riech- oder Geschmacksstörungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinstrübung. Inzwischen gibt es weltweit auch immer mehr Hinweise darauf, dass COVID-19 bei schweren Krankheitsverläufen mit neuro-intensivmedizinischen Komplikationen verbunden ist. Erste Berichte über neurologische Symptome von COVID-19-Patienten kamen aus China, Iran und Italien. Auch Fallberichte von anders nicht erklärbaren Enzephalopathien und Schlaganfällen liegen bereits vor.  „Uns erreichen nahezu täglich neue Daten zu neurologischen Begleitsymptomen bei COVID‑19-Pa­tienten. Der hohe Prozentsatz dieser Symptome, z. T. auch ihr Auftreten ohne jedwede Atemwegsbeteiligung, deutet darauf, dass COVID‑19 kein rein pneumologisches Krankheitsbild ist, sondern unbedingt neurologische Expertise gefragt ist, betont Professor Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Bereits in einer im April in JAMA Neurology veröffentlichten Studie [3] berichteten chinesische Wissenschaftler über eine retrospektive Studie, in der von den 214 untersuchten Patienten mit nachgewiesener COVID-19-Erkrankung gut ein Drittel (36,4 %) neurologische Symptome aufwiesen, die zum Teil isoliert oder vor den anderen bekannten Symptomen wie Fieber und trockenem Husten auftraten. Fünf Patienten erlitten einen Schlaganfall. Bei Beatmungspflicht traten die neurologischen Symptome häufiger auf als bei leichtem Lungenbefall. Anders als bei SARS-CoV 2002/2003, ebenfalls durch das Coronavirus ausgelöst, traten die meisten neurologischen Manifestationen schon sehr früh, zu Beginn des klinischen Verlaufs auf, heben die Verfasser eines unabhängigen Editorials [4] um Samuel J. Pleasure et al., University of California, zu o. g. Studie hervor. Mit Hinweis auf die akuten frühen neurologischen Symptome sehen sie die Neurologen künftig „an vorderster Front“ der Pandemie, damit in der Differenzialdiagnose eine SARS-CoV-2-Infektion nicht übersehen wird. Mögliche Pathomechanismen Ein kleiner Anteil der Patienten mit SARS-CoV‑2-Infektion verstirbt an einem akuten Lungenversagen (ARDS „Acute respiratory distress syndrome“), meistens in Folge einer schweren Form der Lungenentzündung aufgrund einer „überschießenden“ Entzündungsreaktion: In der Lunge sammeln sich Entzündungszellen und Flüssigkeit an. Dies behindert zum einen rein mechanisch die Atmung, zum anderen zerstört die entzündlich-aggressive Flüssigkeit den körpereigenen Schutzfilm („Surfactant“) in den Lungenbläschen. Eine kürzlich publizierte Arbeit aus China [5] beschreibt jedoch einen weiteren möglichen, neurologischen Pathomechanismus des tödlichen Lungenversagens. Demnach könnte eine Beteiligung des Hirnstamms eine Rolle spielen. Unbekannt ist, wie häufig das der Fall ist.  „Es gibt zahlreiche, z. T. auch schon ältere Arbeiten, die zeigen, dass Coronaviren in das ZNS bzw. das Gehirn eindringen können. Eine durch Viren ausgelöste Dysfunktion könnte einen Atemstillstand begünstigen, auch ohne Lungenentzündung“, so Prof. Berlit. Das neuroinvasive Potenzial der Viren könnte auch erklären, warum bei COVID-19-Erkrankungen neben den typischen Krankheitszeichen Fieber, Halsschmerzen und Husten auch neurologische Symptome auftreten. Diese Vermutung wurde bereits 2002/2003 beim SARS-CoV-Ausbruch beschrieben: Die Coronaviren fand man dabei nur in Gehirnzellen, nicht in den benachbarten Blut- oder Lymphbahnen, was für einen Infektionsweg über die Nervenzellen und nicht über Blut- oder Lymphgefäße spricht. Tierexperimentell konnte der neurale Infektionsweg von der Nasenschleimhaut über sogenannte freie Nervenendigungen bis zum Gehirn bereits nachgewiesen werden. Die Viren werden dabei von Neuron zu Neuron über die Synapsen weitergegeben (über den Transportweg der Endo-/Exozytose).  Interessant ist, dass die Viren in die Neuronen anscheinend nicht über denselben Zelloberflächenrezeptor gelangen wie in Lungenzellen, da dieser Rezeptor im Gehirn kaum vorhanden ist. Auch in der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie wird vielfach berichtet, dass Patienten schwer erkranken, sogar versterben, ohne zuvor respiratorische Symptome entwickelt zu haben. „Aus neurologischer Sicht ist es wichtig, abzuklären, wie groß die Rolle der Hirnstammbeteiligung bei COVID-19-Patienten tatsächlich ist. Wir hoffen, dass internationale COVID-19-Register zeitnah Daten dazu liefern“, betont Prof. Berlit.  In großen Registern wie dem europäischen von LEOSS*, unterstützt von den DGN JuNos – Junge Neurologen, sollen u.a. die neurologischen Aspekte beleuchtet werden. Von der Initiative of German NeuroIntensive Trial Engagement IGNITE der DGNI wurde die prospektive Beobachtungsstudie PANDEMIC (Pooled Analysis of Neurologic DisordErs Manifestating in Intensive care COVID-19) aufgelegt, um spezifisch und systematisch der Rolle des SARS-CoV-2 bei neuro-intensivmedizinischen Verläufen auf die Spur zu kommen. Ziel ist es, für diesen potenziell relevanten Teil der Erkrankung Therapieoptionen abzuleiten, so Prof. Dr. med. Julian Bösel, Kassel, Präsident elect der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin e. V. (DGNI). SARS-CoV-2 kann Hirnhaut­entzündungen hervorrufen Besonderes Aufsehen erregte jüngst ein Fallbeispiel aus Japan [6], bei dem SARS-CoV-2 bei einem jungen Mann eine Hirnhautentzündung (Meningitis) ausgelöst hat. „Wie nach den Erfahrungen bei SARS und MERS zu erwarten war, zeigt diese Kasuistik eindrucksvoll, dass das Nervensystem bei COVID-19-Erkrankungen befallen sein kann, und zwar auch bei sehr jungen Patienten“, erklärt Professor Berlit. In der aktuell publizierten Kasuistik [6] wird berichtet, dass der 24-jährige Mann in den ersten acht Tagen seiner Erkrankung wegen Müdigkeit, Kopfschmerz, Übelkeit und Fieber zweimal einen Arzt aufgesucht hatte. Eine Lungenröntgenuntersuchung war unauffällig. Am neunten Tag der Erkrankung wurde er bewusstlos aufgefunden. Während des Krankentransports kam es zu mehreren epileptischen Anfällen, so dass er intubiert und beatmet werden musste. In der Klinik wurde eine ausgeprägte Nackensteifigkeit diagnostiziert. Die MRT zeigte den Befund einer Meningoenzephalitis mit Hyperintensitäten entlang der rechten lateralen Ventrikelwand sowie rechts mesiotemporal und in der Hippocampusregion. Im Thorax-CT fanden sich zusätzlich Hinweise auf eine virale Pneumonie. Dennoch war der Nasen-Rachen-Abstrich auf SARS-CoV-2-negativ, im Liquor jedoch konnte spezifische SARS-CoV-2-RNA nachgewiesen werden.  SARS-CoV-2 könnte potenzieller Schlaganfallauslöser sein Ob die in der Wuhanstudie [2] stattgehabten Schlaganfälle eine direkte Infektionsfolge sind oder ob sie bei schwerkranken COVID-19-Pa­tienten aufgrund schlaganfallbegünstigender Begleit­erkrankungen häufiger auftreten, ist noch unklar. In der Wuhanstudie wurden Laborparameter der schwer betroffenen COVID-19-Patienten ausgewertet. Auffällig war, dass Patienten mit neurologischen Symptomen eine geringere Lympho­zytenzahl aufwiesen, was auf eine herabgesetzte Immunabwehr hindeutet. Außerdem hatten sie höhere Blut-Harnstoff-Stickstoff-Spiegel (BUN). Die Gruppe der Patienten mit schweren respiratorischen Verläufen wies insgesamt auch höhere D-Dimer-Spiegel auf. „D-Dimere steigen bei einer Sepsis an, können aber auch auf eine Aktivierung des Gerinnungssystems hinweisen, wie sie auch bei anderen schweren Virusinfektionen bekannt sind. SARS-CoV-2 könnte so Schlaganfälle begünstigen“, erklärt Professor Dr. Götz Thomalla, Hamburg, Sprecher der DGN-Kommission Zerebrovaskuläre Erkrankungen. Die erhöhte Schlaganfallrate bei Patienten mit schweren COVID-19-Erkrankungen ist auch Gegenstand des Editorials in JAMA Neurology [4]. Die Editoren heben hervor, dass es vor allem multimorbide Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren wie Bluthochdruck sind, die schwer an COVID-19 erkranken. Die höhere Schlaganfallrate könnte somit einem Selektionsbias geschuldet und keine direkte Infektionsfolge sein. „Ob ein Schlaganfall direkte Folge der schweren SARS-CoV-2-Infektion ist, gilt als eine wichtige Forschungsfrage, der wir gezielt nachgehen müssen. Wichtig ist aktuell aber, dass Schlaganfälle auch bei beatmeten Patienten rechtzeitig erkannt und behandelt werden“, erklärt Berlit. SARS-CoV-2 kann Guillain-Barré-Syndrom auslösen Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) entsteht durch eine überschießende Autoimmunreaktion häufig in Folge von Infektionen, z. B. nach bakterieller Darminfektion oder Infektion mit dem Zytomegalievirus. Neben anderen Lähmungserscheinungen kann bei einigen Pa­tien­ten auch die Atemmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen werden, so dass sie beatmet werden müssen­. Anfang April wurde erstmals die Möglichkeit eines SARS-CoV-2-assoziierten GBS in „Lancet Neurology“ diskutiert [7]. Kurz darauf folgten zwei weitere Publikationen aus Europa, die ein GBS bzw. eine GBS-Variante bei COVID-19-Patienten beschreiben [8, 9]. Nach diesen Publikationen gilt nun auch SARS-CoV-2 als GBS-auslösender Erreger.  Der erste Fallbericht [7] betrifft eine 61-jährige Frau aus China, deren SARS-CoV-2-Rachenabstrich positiv war, jedoch erst an Tag 8 kamen Husten, Fieber sowie Zeichen einer viralen Pneumonie im Thorax-CT hinzu. Die Frage war, ob es sich um einen Zufall handelte. Jedoch bereits zwei Wochen später wurde eine Fallserie mit GBS bei fünf italienischen SARS-CoV-2-Patienten veröffentlicht [8]. Von 1.000−1.200 COVID-19-Patienten erkrankten fünf innerhalb von 5−10 Tagen nach Symptombeginn von COVID-19 an einem GBS, drei dieser Patienten mussten maschinell beatmet werden. In der Studie konnte allerdings nicht abgegrenzt werden, ob die Beatmung wegen des GBS oder der respiratorischen Infektion notwendig wurde.  Typischerweise treten das klassische GBS oder dessen Varianten zehn Tage bis zu vier Wochen nach der zugrundeliegenden Infektion auf. Alle bisher berichteten SARS-CoV-2-Patienten erkrankten bereits 5–10 Tage nach Symptombeginn der COVID-19-Erkrankung.Wichtig ist, dass bei Patienten mit GBS (oder Miller-Fisher-Syndrom) abgeklärt wird, ob eine SARS-CoV-2-Infektion vorliegt. Umgekehrt muss bei Patienten mit schweren COVID-19-Verläufen, abgeklärt werden, ob nicht ein GBS/MFS eigentliche Ursache der Beatmungspflichtigkeit sein könnte. Das gilt insbesondere, wenn der bildgebende Befund der Lungen nicht auf Organschädigungen deutet, die eine maschinelle Beatmung notwendig machen.  Immuntherapie nicht aus Angst vor dem Coronavirus absetzen Patienten mit einer neurologischen Autoimmunerkrankung erhalten häufig immunsupprimierende oder immunmodulierende Medikamente. Viele dieser Patienten befürchten, dass diese das Risiko einer Coronavirusinfektion erhöhen. Grundsätzlich ist diese Annahme nicht falsch. Das Robert Koch-Institut (RKI) [10] zählt Menschen mit Immunsuppression zur Risikogruppe für einen schwereren COVID-19-Krankheitsverlauf. Einen konkreten Hinweis dafür, dass die Immuntherapie das Risiko erhöht, sich mit dem Coronavirus anzustecken oder an COVID-19 zu erkranken, gibt es jedoch derzeit nicht. Die Kommission Neuro­immunologie der DGN warnt daher Patienten vor einem unbedachten Absetzen der Therapie ohne Rücksprache mit dem Arzt. Ein Behandlungsabbruch könne zu einer deutlichen Verschlechterung der Autoimmunerkrankung führen, und das stünde in aller Regel nicht in Relation zu dem Risiko, an COVID-19 zu erkranken. Das gelte sogar auch für immunmodulierende Substanzen, beispielsweise Fingolimod oder Siponimod, die allgemein die Anfälligkeit für Lungenerkrankungen erhöhen.  Auch das RKI rät Risikopatienten grundsätzlich nicht dazu, ihre Therapie abzubrechen, sondern sich stattdessen bestmöglich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen. „Für Patienten, die eine Immuntherapie erhalten, ist es noch wichtiger als für alle anderen, die allgemeinen Verhaltensregeln und Hygieneempfehlungen des RKI zu befolgen“, gibt Professor Harald Prüß, Sprecher der Kommission Neuroimmunologie der DGN, die aktuell eine Stellungnahme [11] zu der Thematik veröffentlicht hat (Stand 21.04.2020), zu bedenken. Menschen, die mit immunsuppressiven/-modulierenden Medikamenten behandelt werden, sollten ihre Kontakte zu anderen Menschen auf ein Minimum reduzieren – nur die soziale Isolation schütze letztendlich vor Ansteckung.  (Redaktion, ek)  Quellen: Presseinformationen der DGN vom 27.03.2020, 31.03.2020, 9.04.2020, 16.04.2020, 23.04.2020, 27.03.2020Presseinformation der DGIN vom 06.05.2020ReferenzenMadjid M, Safavi-Naeini P, Solomon SD et al. JAMA Cardiol 2020 Mar 27. [Epub ahead of print]. Yeshun Wu et al.: Brain, Behavior and Immunity, 30. März 2020, doi:10.1016/j.bbi.2020.03.031Mao L, Jin H, Wang M et al. JAMA Neurol. Published online April 10, 2020. doi:10.1001/jamaneurol.2020.1127 Pleasure SJ, Green AJ, Josephson SA. JAMA Neurol. 2020 Apr 10. doi: 10.1001/jamaneurol.2020.1065Li YC, Bai WZ, Hashikawa T. J Med Virol 2020 Feb 27. doi: 10.1002/jmv.25728. [Epub ahead of print] Moriguchi T, Harii N, Goto J et al. International Journal of Infectious Diseases. https://doi.org/10.1016/j.ijid.2020.03.062  Zhao H, Shen D, Zhou H et al. Lancet Neurol 2020 Apr 1. pii: S1474-4422(20)30109-5. doi: 10.1016/S1474-4422(20)30109-5. [Epub ahead of print]Toscano G, Palmerini F, Ravaglia S et al. N Engl J Med 2020 Apr 17. doi: 10.1056/NEJMc2009191. [Epub ahead of print]Gutiérrez-Ortiz C, Méndez A, Rodrigo-Rey S et al. Neurology 2020 Apr 17. pii: 10.1212/WNL.0000000000009619. doi: 10.1212/WNL.0000000000009619. [Epub ahead of print] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.htmlhttps://www.dgn.org/neuronews/71-neuronews-2020/3890             aus connexi  3-2020 INFEKTIOLOGIEAIDS und Hepatitis, Covid-19      Titelbild Copyright: Science Photo Library / James Cavallini, mauritius images / BSIP / James Cavallini, Shutterstock / iconriver Gestaltung: Jens Vogelsang   
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