90-90-90 reicht nicht – das Ziel reflektiert nicht alle Probleme
Anja Lamprecht
HIV-Infektion in Deutschland 2019 90-90-90 reicht nicht – das Ziel reflektiert nicht alle Probleme Mit hochwirksamen, gut verträglichen antiretroviralen Therapien, Single-Tablet-Regimen und Präexpositionsprophylaxe konnte in den vergangenen Jahren die Behandlungsqualität der HIV-Infektion weiter verbessert werden. Doch trotz der Erfolge sind längst nicht alle Ziele erreicht – nicht im medizinischen Bereich und schon gar nicht im Sinne gesellschaftlicher Akzeptanz und Integration betroffener Patienten. Im Rahmen internationaler, nationaler und regionaler Veranstaltungen werden die intensiven Bemühungen um die Lösung der weltweit noch zahlreichen ungelösten Probleme regelmäßig reflektiert und diskutiert, um gesetzte Ziele und Realität im Kampf gegen die Infektion einander immer wieder ein Stück näher zu bringen. Auch wenn das UNAIDS-Ziel 90-90-90 medizinisch schon vielfach erreicht wird und Patienten, die in Behandlung sind, mit den verfügbaren Medikamenten sicher unter die Nachweisgrenze kommen, bleiben noch viele Herausforderungen in der Heilungs-, Impf-, Resistenz- und Toxizitätsforschung, bei Allokationsproblemen in Entwicklungsländern bis hin zu strukturellen und Fragen der Versorgung, wie sie auch in Deutschland noch bestehen, sowie bei den vielen Facetten der Stigmatisierung und Diskriminierung weltweit.Unverzichtbar für die Praxis: Wissenstransfer Während große internationale Kongresse wie die Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections (CROI) oder die IAS Conference on HIV Science allerneueste wissenschaftliche Studiendaten und Ergebnisse aus der Grundlagenforschung präsentieren, bieten im Jahresverlauf in Deutschland kompaktere kleinere Veranstaltungen wie die Münchner AIDS- und Hepatitis-Werkstatt im jährlichen Wechsel mit den Münchner AIDS- und Hepatitis-Tagen, der alle zwei Jahre ausgerichtete Deutsch-Österreichische AIDS-Kongress, der dagnä-Workshop und zahlreiche weitere Fachtagungen vielfältige Gelegenheiten, den aktuellen Stand der sich rasant entwickelnden wissenschaftlichen Erkenntnisse auszuwerten, zu interpretieren und zu diskutieren. So sind die großen aktuellen Themen derzeit, nach wie vor die Heilungschancen von HIV, die Präexpositionsprophylaxe (PrEP), das bessere Verständnis der Immunologie, (Langzeit)-Nebenwirkungen der ART, Therapievereinfachung und viele weitere in Studien untersuchte Detailfragen zu bestimmten Substanzen, Therapiestrategien und Patientensubgruppen. München – die „Familientreffen“ Die seit knapp 20 Jahren jeweils an zwei Tagen im März stattfindende Münchner AIDS- und Hepatitis-Werkstatt – von vielen Teilnehmern mittlerweile als Familientreffen empfunden, wie die Organisatoren gern feststellen − fokussierte in diesem Jahr am 29. und 30. März neben den somatischen und psychosozialen Aspekten von HIV und Hepatitis, Fortschritte in der Infektiologie, Onkologie, Flüchtlingsmedizin, Epidemiologie und damit verbundene Fragestellungen. Die Werkstatt mit kleineren Workshops und anderen interaktiven Formaten wie Corner Stone Labs, fand 2019 zum achten Mal unter der wissenschaftlichen Leitung wie bisher von PD Dr. Christian Hoffmann und Dr. Hans Jäger statt. Neu zur Verstärkung hinzugekommen sind im vergangenen Jahr Dr. Eva Wolf und als Tagungssekretär Dr. Georg Härter. Im nächsten Jahr finden wieder die Münchner AIDS- und Hepatitis-Tage, dann bereits zum 18. Mal, vom 27. bis 29. März, traditionell im Westin Grand Hotel München statt. Hamburger Hafen – Schuppen 52 Der Deutsch-Österreichische AIDS-Kongress fand in diesem Jahr unter dem Motto „Visionen & Wirklichkeit“ in Hamburg statt. Als Veranstaltungsort wurde der „Schuppen 52“ gewählt, ein, wie auf der Homepage nachzulesen und anzuschauen ist, „klassischer Kaischuppen aus der Kaiserzeit mit unvergleichlicher Atmosphäre, die ein Jahrhundert Hafen- und Seefahrtsgeschichte reflektiert, direkt am Wasser, mit einem Traumblick über die Elbe auf Hamburgs Stadtpanorama“ (alles 100%ig zutreffend). In bewährter Zusammenarbeit der deutschen und der österreichischen AIDS-Gesellschaften brachte der Kongress auch 2019 Akteure aus Grundlagenwissenschaft, Behandlung, Sozialwissenschaften, öffentlicher Gesundheitsvorsorge und AIDS-Hilfen zu einem anregenden Austausch zusammen. Knapp 1.000 Teilnehmer aus verschiedenen Berufsgruppen waren in die Hansestadt gekommen, um sich auf den aktuellsten Wissensstand zu bringen und länderübergreifend in interessanten z. T. neuen interaktiven Formaten wie Campfire-Sessions die brennenden Fragen der Zeit mit Bezug auf die HIV-Medizin zu diskutieren und ihre Mitgliederversammlungen abzuhalten. Die Mitgliederversammlung der Deutschen AIDS-Gesellschaft verabschiedete u. a. eine neue Leitlinie zur Therapie der HIV-Infektion im Erwachsenenalter und wählte einen neuen Vorstand für die kommenden zwei Jahre. Diesem gehören an: Prof. Dr. Hans-Jürgen Stellbrink aus Hamburg (Präsident der DAIG), PD Dr. Christoph Boesecke aus Bonn (Wissenschaftlicher Sekretär), PD Dr. Stephan Esser aus Essen (Schatzmeister), PD Dr. Christoph Spinner aus München (Schriftführer) und Dr. Annette Haberl aus Frankfurt (Sekretärin für Öffentlichkeitsarbeit). Aus dem Vorstand ausgeschieden sind Prof. Dr. Georg Behrens, der seit 2011 Präsident der Fachgesellschaft war und PD Dr. Christoph Wyen, der in den letzten zwei Jahren das Amt des Schriftführers innehatte. Die Kongresspräsidentschaft des DÖAK 2019 hatten Prof. Dr. Andreas Plettenberg und Prof. Dr. Hans-Jürgen Stellbrink übernommen. Wissenschaftliche Koordinatorin war Prof. Dr. Marylyn Addo, alle drei aus Hamburg. Bericht: Elke Klug. Am Nachmittag des zweiten Kongresstages hatte connexi die Gelegenheit zu einem Interview mit Professor Andreas Plettenberg vom Ifi-Institut für interdisziplinäre Medizin, Zentrum für Infektiologie an der Asklepios Klinik St. Georg in Hamburg. Herr Professor Plettenberg, was zeichnet diesen Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress aus? Was wird Ihnen von diesem Kongress 2019 am nachhaltigsten in Erinnerung bleiben? Prof. Plettenberg: Ich glaube, es ist uns gut gelungen, die wichtigsten Aspekte für die behandelnden Ärzte, für die Community und die der Forschung zu verbinden. Es hat sehr viele angeregte Diskussionen zwischen allen Beteiligten gegeben. Dazu beigetragen hat sicher auch die Location, der Schuppen 52 mitten im Hamburger Hafen! Alle Elemente des Kongresses sind hier kompakt beieinander, man kann sich nicht verlaufen und jeder findet jeden. Ich habe von nahezu allen Teilnehmern positives Feedback bekommen, auch wenn die Anreise hierher für manche nicht ganz einfach war. Beeindruckt hat mich, welche Relevanz die Community bei diesem Kongress hat und wie aktiv diese sich einbringt. Das spezielle Konzept dieses Kongresses beinhaltet ja neben der engen Verknüpfung von Wissenschaft und klinischem Management den Austausch zwischen den Betroffenen und den Behandlern/Therapeuten und weiteren beteiligten Berufsgruppen. Dieser Dialog ist ein Charakteristikum dieses Kongresses, mit dem er sich von anderen Kongressen unterscheidet, also beinahe ein Alleinstellungsmerkmal. Die Community hatte eigene Sessions mit hervorragenden Referenten – „N=N – Das müssen alle wissen!“, „GIPA reloaded – Was bedeutet ‚Nothing about us without us‘ heute?“, „Chems, Sex, Drugs and Rock‘n‘Roll“, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch ich als erfahrener Behandler habe hier vieles gelernt. Wie reflektierte sich für Sie während des Kongresses das Motto „Visionen und Wirklichkeit“? Prof. Plettenberg: Bei diesem Kongress geht es eigentlich um drei Themenfelder mit unterschiedlichen Visionen und Wirklichkeiten. Eines der drei betrifft die Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion. Was ist heute möglich und was wird in der nächsten Zeit kommen? In den zurückliegenden Jahren hat sich sehr viel getan. Trotzdem sind weitere Fortschritte wichtig, und es stehen spannende Verbesserungen konkret vor der Tür, z. B. die Injectables oder die duale Therapie. Es bleibt abzuwarten, wie sehr sich diese durchsetzen werden. Ein für alle Beteiligten wichtiges Thema ist die PrEP, um die es in vielen Sitzungen ging. Im Symposium „Wo stehen wir bei der PrEP?“ wurden die Herausforderungen der PrEP aus sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Von der Beschaffung und Einnahme der Medikamente bis hin zum diagnostischen Procedere und zu berufspolitischen Fragen, die sich aus den neuen Erstattungsregelungen zur PrEP ergeben. Das zweite Themenfeld unter dem Motto Vision und Wirklichkeit betrifft die Forschung. Hier gibt es eine ganze Reihe von hochinteressanten Vorträgen zur Grundlagenforschung, für die wir exzellente Referenten gewinnen konnten. Hier nenne ich nur beispielhaft die Themen „Genscheren – Der Weg zur Heilung?“, „Wege zur funktionellen Heilung“, „Stammzelltransplantation oder „Natürliche Abwehr gegen HIV: Einblicke in das menschliche Repertoire“, „Neutralisierende Antikörper“ oder „HIV-Vakzine – wann ist sie da?“. Es gibt viele neue Entwicklungen, über die man sich hier einen hervorragenden Überblick verschaffen kann. Neben der Grundlagenforschung kommt auch der Versorgungsforschung große Bedeutung zu. Das sehr gelungene Symposium „Versorgungsforschung und Gesundheitspolitik“ wurde in Zusammenarbeit mit der dagnä veranstaltet. Stichwort Vision. Sehen Sie eine Lücke zwischen Vision und Wirklichkeit, und wenn ja, wie kann diese geschlossen werden? Prof. Plettenberg: Da stellt sich zunächst die Frage, welche Vision meinen wir? Unsere größte Vision ist sicherlich, die HIV-Infektion irgendwann zu heilen, also die vollständige Virus-Eradikation. Dies ist heute noch nicht möglich. Wenn wir das irgendwann hinbekämen, wäre dies phantastisch. Dahin ist es noch ein weiter Weg. Dennoch, wir haben in den vergangenen 30 Jahren immer wieder Überraschungen erlebt, was alles möglich ist. Ich persönlich beschäftige mich seit über 30 Jahren mit der HIV-Infektion und habe immer wieder Überraschungen erlebt. Früher konnte ich mir nicht vorstellen, dass die HIV-Infektion irgendwann so einfach und effizient behandelt werden kann, wie dies heute der Fall ist. Es sind uns früher die Patienten unter den Händen weggestorben und wir waren der Meinung, dass dieser heimtückische und trickreiche Retrovirus niemals wirklich erfolgreich kontrolliert werden kann. Heute nehmen viele Patienten nur eine Tablette pro Tag ein und es geht ihnen darunter gut, sie sind damit nicht mehr infektiös und erreichen ein normales Lebensalter. Noch eindrucksvoller ist die Entwicklung bei der Hepatitis C. Noch bis vor wenigen Jahren war dies eine unheilbare und lebensbedrohliche Erkrankung. Dann hat die Forschung in kurzer Zeit viele neue Substanzen entwickelt, die dann in Studien getestet wurden. Und heute, nur wenige Jahre später? Die Patienten müssen wenige Wochen Tabletten einnehmen und sind dann geheilt. Wer hätte das vor zehn Jahren geglaubt? Dies unterstreicht nachhaltig, welch große Bedeutung der Forschung zukommt. Eine weitere positive Entwicklung in Richtung einer Vision, die wir hatten, betrifft die PrEP, mit der die Zahl der HIV-Neuinfektionen abnehmen wird. Die PrEP wird in Kürze eine Kassenleistung und damit deutlich häufiger eingesetzt werden. Was dies für das tägliche Handling bedeutet, ist noch nicht ganz klar. Vermutlich wird es erforderlich sein, dafür neue Strukturen zu schaffen. Das dritte Themenfeld Vision und Wirklichkeit betrifft das alltägliche Leben unserer Patienten. Beeindruckt hat mich der Vortrag von Franziska Borkel zum Thema „Gesundheit unter ART“, die als Betroffene über ihre persönlichen Erlebnisse und ihre Sichtweise berichtet hat. Um sie anzumoderieren hatte ich zuvor ein wenig recherchiert und in den Medien gelesen, dass sie trotz der Infektion ein ganz normales Leben führen würde. Ihr Vortrag hat uns allen dann deutlich gemacht, dass dies nicht der Fall ist, dass Stigmatisierung und viele andere Probleme immer noch gegenwärtig sind. Und: Dies betrifft nicht nur die HIV-Infektion, sondern auch die verschiedenen anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen. Die Vision ist somit, dass unsere Gesellschaft lernt und verinnerlicht, dass Leben, Sex und sexuelle Erkrankungen zusammengehören ebenso wie auch Leben und Tod. Dass darüber ohne Tabus oder Vorbehalte gesprochen wird und damit der Stigmatisierung der Boden entzogen wird. Vielen Dank für dieses Gespräch. Mit Prof. Plettenberg sprach Elke Klug Bild Copyright: Alexey Kashpersky, Ukraine Im Gespräch mit: Prof. Dr. med. Andreas PlettenbergPlettenberg@ifi-medizin.de aus connexi 6-2019 AIDS und HEPATITISMünchner AIDS und Hepatitis Werkstatt 2019, DÖAK 2019 in HamburgKongressberichte Titelbild Copyright: Adobe Stock / DanBu.Berlin, Adobe Stock / detshana, Adobe Stock / magann. Gestaltung: Jens Vogelsang